Inschallah, so Gott will

Inschallah, so Gott will

In der Schweiz leben 450 000 Muslime. Menschen wie Sie und ich. Und einige, die Ängste säen.

Was tun, wenn in einem Parkhaus in der Stadt Zug der letzte freie Parkplatz besetzt ist – von drei Männern, die auf ihren Jacken knien und sich vor der Betonwand verneigen, hinter der Mekka liegen muss? «Hupen! Schimpfen!» rät Saïda Keller-Messahli, denn man solle sich nicht einschränken lassen durch Gläubige, die ihre Präsenz in der Öffentlichkeit markieren. Religionen sollten respektiert werden, aber sie seien Privatsache.

Saïda Keller-Messahli, die Leiterin des «Forums für einen fortschrittlichen Islam», ist eine der zehn Muslime, die wir für unser Heft besucht haben. Viele Europäer sind in den letzten Jahren misstrauisch geworden gegenüber dem Islam, denn es sind keine Buddhisten oder Christen, die im Namen ihres Glaubens Terror verbreiten. Der fundamentalistische Islam ist längst in unserer säkularen, offenen Gesellschaft angekommen. Wie gehen wir damit um? Wie reagieren darauf in der Schweiz lebende Muslime? Geht sie das alles nichts an? Oder doch?

«Natürlich», sagt die Ägypterin, die von Zürich aus mit Youtube-Filmen für die sexuelle Befreiung der arabischen Frauenwelt kämpft. «Nein», sagt die Jusstudentin, die erst vor einem Jahr beschloss, ein Kopftuch zu tragen. Bei der türkischen Familie Eren ist Religion Nebensache, religiöse Feste sind vor allem ein Grund, Freunde zu treffen. In Genf predigt der konservative Imam Hani Ramadan: «Das erste, was wir verstehen müssen, ist, dass der Islam die natürliche Religion ist.» In der gleichen Stadt hat der homosexuelle Tunesier Wissem Asyl gefunden, nachdem in seiner Heimat eine Fatwa gegen ihn ausgesprochen wurde.

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Kunststück

Kunststück

Das kann ich auch!

Zeitgenössische Kunst ist keine Randerscheinung. Sie siedelt mitten im Zentrum: Biennale, Triennale, Documenta, Art. Kunst ist Touristenattraktion. Kunst ist Lifestyle. In Scharen ziehen wir von einer Halle zur nächsten, betrachten andächtig Blut und Sperma, Tierpräparate in mit Formalin gefüllten Bottichen. Und dieses von der Decke hängende Elektrokabel? Ist es Installation oder die schlampige Arbeit eines Handwerkers? An der frischen Luft atmen wir erst mal tief durch. Es ist nicht einfach, der zeitgenössischen Kunst beizukommen.

Kants Kunstphilosophie war die letzte, die eine Wertschätzung des Dekorativen erkennen liess. Danach verschwand es als wesentliches Kriterium zur Beurteilung von Kunst. Zur wahren Herausforderung wurde das Verstehen von Kunst ab Mitte der 1970er Jahre: Der Einfluss klar erkennbarer Stile verlor an Bedeutung, Künstler konnten sich nicht mehr im Schutz eines bestimmenden Stils selbst erfinden, sondern mussten für ihr Schaffen eigene Inhalte und eine eigene Sprache entwickeln. Seither, so scheint es, ist Kunst ein Ort mannigfacher Behauptungen.

Die zeitgenössische Kunst, so populär sie ist, ist undurchschaubar und kaum zu fassen. Oft ist sie uns fremder als der Mond – ebenso faszinierend, aber auch unheimlich, kalt und abweisend. Fragen drängen sich auf. Besonders eine: Ist das überhaupt Kunst? Vor allem: gute Kunst? Doch zu stellen wagt man sie selten. Wer möchte schon als Banause ausgegrenzt werden, ehe er an der Vernissage das Glas zu den Lippen führen konnte?

 Noch immer gelingt es, sich Hals über Kopf in ein Werk zu verlieben, die Begegnung berührt dann ebenso intensiv wie ein Lächeln oder ein Kuss. Öfter verweigert das Kunstwerk uns aber einen solchen Augenblick des Glücks – es bietet dann aber immerhin die Möglichkeit einer Annäherung an etwas Fremdes, das irritiert, uns die Welt aus einer bisher unbekannten Sicht erfahren lässt. Wenn das Werk den Betrachter nicht loslässt, wird es durch seine Wirkung zur Kunst, erzählen uns die Experten in diesem Heft. Im Zweifelsfall, sagt die Künstlerin Pipilotti Rist, siege die Stimme der Mehrheit: «Wenn von sechs vier das Werk gut finden und zwei nicht, wird es wohl eher gute Kunst sein.» So einfach ist das.

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Jeder ein VIP

Jeder ein VIP

Ja, auch Sie sind eine «very important person». Haben Sie das nicht gewusst?

Feierabend, der Verkehr staut sich in Zürichs Agglomeration. Doch zu spät zu kommen ziemt sich nicht – schliesslich werde ich bei einem VIP-Anlass erwartet. Ein runder Mann mit gespannter Sicherheitsweste weist mir einen Parkplatz zu. Stramm steht der Mann da, als wäre eine königliche Kutsche vorgefahren oder ein Magistrat, ein Literat oder Künstler. Kurz: eine bedeutende Person, der ein roter Teppich gebührt. Der ist nur wenige Meter vom Parkplatz entfernt ausgerollt worden, beleuchtet von Fackeln.

Unweit steht ein weisses Zelt und schützt die wie Geschenke verpackten Stehtischchen. Hinter einem Grill wendet ein Metzger Bratwürste und, ja, Cervelats. Wo die VIP seien, frage ich den Gastgeber, einen Generalunternehmer, der am Ende des Teppichs wartet und jeden Gast mit Handschlag begrüsst. Das sind Sie, jubiliert er. Ich dürfe einen ersten Blick auf die Wohnungen werfen, bevor sie zum Verkauf ausgeschrieben würden.

Einst war es den Adligen und Politikern vorbehalten, «sehr bedeutend» zu sein, es folgten Filmstars und Sternchen. Mittlerweile ist jeder potentielle Kunde eine geschätzte Persönlichkeit, die umgarnt wird mit Bonus-Bons und Pre-Boarding-Versprechen, die gefeiert wird als Member und treuer Treuepunktesammler.

Am Ende der Veranstaltung bekommt jeder Gast, also jeder VIP, von einem jungen Mann in dunklem Anzug einen Goody-Bag gereicht, ganz wie die Stars bei den Oscar-Verleihungen. In ihrem Bag liegen Schmuck und andere Kostbarkeiten. In meiner Papiertüte rollen zwei Flaschen Bier und eine Handvoll Erdnüsse.

Wie schön es doch ist, eine sehr wichtige Person zu sein.

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«Doch da war es schon zu spät»

«Doch da war es schon zu spät»

Für dieses Heft haben Schriftsteller Zukunftsgeschichten geschrieben. Was sie gemeinsam haben? Nur einen Satz.

Wie wird sie wohl aussehen, die Welt von morgen? Propheten, Wissenschafter und Science-Fiction-Autoren nahmen sich immer wieder dieser Frage an und beschworen drohende Apokalypsen herauf oder verbreiteten kühne Visionen des Fortschritts.

Die Trefferquote war insgesamt bescheiden, hin und wieder stimmte zumindest die Stossrichtung. Mitte des 19.?Jahrhunderts prognostizierte man den New Yorkern, bis ins Jahr 1910 würden sie im Pferdemist ersticken – wegen des ständig zunehmenden Kutschenverkehrs. Dass heute andere Kutschen die Grossstädter zu Stosszeiten lähmen, zeigt, wie viele Unbekannte unseren Weg in die Zukunft pflastern.

Dennoch verlor das Spiel nie seinen Reiz. Mit der wachsenden Technisierung entstanden Vorstellungen durchrationalisierter Schlaraffenländer: auf Schienen geführte Autos, Siedlungen auf dem Mond und unter dem Meer, Roboter, die im Haushalt und in Altersheimen den Menschen zur Hand gehen.

Auf jedes Hohelied auf den Fortschritt folgte stets die Furcht, von ihm überrollt zu werden. Energiekrisen und Umweltkatastrophen lösten Gegenbewegungen aus. An die Zukunftsgläubigen erging die Warnung, die Grenzen des Mög­lichen – und Wünschbaren – seien erreicht.

Wie wird sie also wohl aussehen, die künftige Welt? Das fragten wir für dieses Heft neun Schriftsteller, die sich weder als Propheten, Wissenschafter noch ­Science-Fiction-Autoren hervorgetan haben. Fünf Frauen und vier Männer erzählen uns in Kurzgeschichten, was auf uns zukommen wird. Sie erhielten eine Carte blanche, weshalb sich ein Text im kommenden Jahrtausend ansiedelt, ein anderer am morgigen Tag.

Die Schriftsteller schreiben in verschiedenen Sprachen und mit unterschied­lichem literarischem Temperament. Einzig eine Vorgabe haben wir ihnen gemacht. In jedem Text musste der Satz vorkommen: «Doch da war es schon zu spät.» Ein Satz, der, so viel wird in diesem Heft klar, nicht zwingend eine Apo­kalypse nach sich ziehen muss.

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Sechs Suchende

Sechs Suchende

Ein Jahr lang begleiteten wir sechs Singles auf der Partnersuche. Warum es so schwierig ist, den Richtigen zu finden.

Drei Frauen, drei Männer. Sechs Lebensgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die doch etwas verbindet: der Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden. Sie machen sich auf, jeder auf seine Art, sie suchen, wie Millionen andere Singles auch, mit Inseraten off- und online, in Single-Chatrooms, in Clubs und auf Single-Spaziergängen – nie gab es mehr Möglichkeiten.

Lisa ist 41, alleinerziehende Mutter, Galeristin, Reisende. Die Singles-Börsen im Internet kennt sie fast alle. Sie ist butterfly und CH8HH6V5. Unter anderem.

Johann, 32, kam vor vier Jahren aus Göttingen nach Zürich, um seine Dissertation zu beenden. Eingebettet in eine Freundeswelt aus Pärchen, scheint er als Einziger plötzlich allein geblieben.

Sepp ist 52. Er lebte in Bulgarien, suchte in der Ukraine. Er verkaufte Brathühner und hoffte, an seinem Anhänger die Frau fürs Leben zu treffen.

Judit, 54, sucht im oberen Männersegment. Partnervermittlungsagenturen und Inserate in der NZZ sollen die Ärztin in starke Arme führen.

Paolo ist 29 und Mikrobiologe. Sein Comingout hatte er mit 22 Jahren. Er lebt nicht nur digital auf der Überholspur – doch in Clubs übersieht man ihn.

Romy, 69, inseriert in Zeitungen. Es melden sich Heiratsschwindler und Männer, die nur das eine wollen. Und die will sie nicht.

Nie war es leichter, den passenden Partner zu finden, sagen Experten. Technisch gesehen mag das stimmen. Praktisch gesehen ist der Umgang des Menschen mit der Liebe kompliziert wie zu allen Zeiten – vielleicht, weil jeder etwas anderes von ihr erwartet, vielleicht, weil jeder etwas anderes unter ihr versteht. Und so ist der Wunsch, für jemanden zur Welt zu werden, oft schmerzvoll, der Weg zum auserwählten Herz nicht selten voller Wirrungen. Doch jeder Gang durch die tiefschwarze Nacht lohnt, wenn der Tag einen mit den Worten «Ich ­liebe dich» begrüsst.

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Wir Lügner

Wir Lügner

Der schlechte Ruf der Lügen

Lügner haben einen schlechten Ruf. Lügner missbrauchen das Vertrauen ihrer Mitmenschen, sie düngen den Boden der von Unsicherheit geplagten Welt, in der man nie weiss, wer wen wann belügt. In Franz Grillparzers «Weh dem, der lügt» sind Lügner gar der leibhaftige Teufel: «Ein Teufel bist du, der allein ist Lügner / und du ein Teufel, insofern du lügst.»

Es gibt Menschen, die behaupten, nie zu lügen – was eine der häufigeren Lügen ist –, andere lügen sich chronisch ein besseres Leben zurecht. Es gibt Lügen, die erfolgen routiniert, dienen dem sozialen Überleben, andere dienen der eigenen Sicherheit, wieder andere der bewussten Schädigung. Der Durchschnittsschweizer lügt laut Studien mindestens zweimal täglich.

Wir glauben nicht an die uneingeschränkte Wahrheit. Wir schätzen sie zwar als hohes Gut, wissen aber, dass wir nicht mit ihr rechnen können. Zu oft gerät sie mit Werten wie Anstand und Rücksicht in Konflikt. In den Schriften des heiligen Augustinus über die Lüge gibt es die Pflicht zur unbedingten Wahrhaftigkeit: Unabhängig von den besonderen Umständen werde ein Lügner dadurch schuldig, dass er bewusst etwas Unwahres sage, um andere zu täuschen. Gestützt wurde sein Plädoyer vom Lügenverbot später von Immanuel Kant, der die unbedingte Pflicht zur Wahrhaftigkeit postulierte.
Dass wir dereinst in einer Welt leben werden, in der wir einander nichts als die Wahrheit sagen, droht allerdings nicht. Allein schon, weil uns die Lüge seit je zu sehr fasziniert. «Die Menschen leben nicht nur von Wahrheiten, sie brauchen auch Lügen: die Lügen, die sie frei erfinden, nicht die Lügen, die man ihnen aufzwingt», sagte der Schriftsteller Mario Vargas Llosa. Vielleicht macht das den Unterschied aus zwischen Mensch und Teufel.

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Fleischlos in die Zukunft?

Fleischlos in die Zukunft?

Hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer verzichten auf Fleisch; einige davon auch auf Kuhmilch, Butter und Honig. Vegetarisch oder vegan zu leben, ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert gab es Menschen, die sich pflanzlich ernährten – aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen. Neu ist der Hype um diese Form der Ernährung. Ist sie wirklich gesünder? Wird fleischloses Essen gar zwingend für alle, wenn es gilt, bald 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten zu ernähren?

Vom Regen in die Traufe

Vom Regen in die Traufe

Die Reise des Wassers kennt weder Anfang noch Ende. Ein Regentropfen reist los Richtung Meer, verdunstet, wird wieder Regen. So geht das jahrein, jahraus, wir kennen es aus dem Schulbuch. Ein geschlossener Kreislauf – alles ist gut. Wäre da nicht das sich wandelnde Klima: ­Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, Dürreperioden nehmen zu. Was tun gegen die ­Trinkwasserknappheit? Und was gegen die Verschmutzung? Sauberes ­Wasser, auf das alle ein Recht haben sollten, wird zusehends zum Luxusgut. Und zur umkämpften Ressource: Wer das Wasser hat, hat die Macht. Wie das die Welt ­verändern wird, zeigen wir in diesem Heft. Bald wird auch das in den ­Schulbüchern stehen.

Bis zum letzten Stich

Bis zum letzten Stich

Die Honigbiene ist nur eine von 600 Bienenarten in der Schweiz. Die Bienen wiederum sind nur ein kleiner Teil aller Insekten, die es braucht, damit es blüht und gedeiht und die Regale in den Supermärkten voll sind: Nebst vielen Obst- und Gemüsesorten sind auch Raps, Soya, Kakao, Kaffee und Baumwolle auf die Bestäuber ­angewiesen. In der Schweiz liegt der Wert dieser Gratisleistung bei rund 350 Millionen Franken jährlich. Doch wie lange fliegen die Insekten noch? Die Hiobsbotschaften häufen sich, wenn es um die Zukunft der ­Bestäuber geht. Wir tauchen in dieser Ausgabe in die Welt der Bienen ein und fragen: Wie gefährdet sind sie wirklich? Was können Bienen sonst noch so? Und macht Imkern wirklich Freude?