Kunststück

Zeitgenössische Kunst ist keine Randerscheinung. Sie siedelt mitten im Zentrum: Biennale, Triennale, Documenta, Art. Kunst ist Touristenattraktion. Kunst ist Lifestyle. In Scharen ziehen wir von einer Halle zur nächsten, betrachten andächtig Blut und Sperma, Tierpräparate in mit Formalin gefüllten Bottichen. Und dieses von der Decke hängende Elektrokabel? Ist es Installation oder die schlampige Arbeit eines Handwerkers? An der frischen Luft atmen wir erst mal tief durch. Es ist nicht einfach, der zeitgenössischen Kunst beizukommen.

Kants Kunstphilosophie war die letzte, die eine Wertschätzung des Dekorativen erkennen liess. Danach verschwand es als wesentliches Kriterium zur Beurteilung von Kunst. Zur wahren Herausforderung wurde das Verstehen von Kunst ab Mitte der 1970er Jahre: Der Einfluss klar erkennbarer Stile verlor an Bedeutung, Künstler konnten sich nicht mehr im Schutz eines bestimmenden Stils selbst erfinden, sondern mussten für ihr Schaffen eigene Inhalte und eine eigene Sprache entwickeln. Seither, so scheint es, ist Kunst ein Ort mannigfacher Behauptungen.

Die zeitgenössische Kunst, so populär sie ist, ist undurchschaubar und kaum zu fassen. Oft ist sie uns fremder als der Mond – ebenso faszinierend, aber auch unheimlich, kalt und abweisend. Fragen drängen sich auf. Besonders eine: Ist das überhaupt Kunst? Vor allem: gute Kunst? Doch zu stellen wagt man sie selten. Wer möchte schon als Banause ausgegrenzt werden, ehe er an der Vernissage das Glas zu den Lippen führen konnte?

 Noch immer gelingt es, sich Hals über Kopf in ein Werk zu verlieben, die Begegnung berührt dann ebenso intensiv wie ein Lächeln oder ein Kuss. Öfter verweigert das Kunstwerk uns aber einen solchen Augenblick des Glücks – es bietet dann aber immerhin die Möglichkeit einer Annäherung an etwas Fremdes, das irritiert, uns die Welt aus einer bisher unbekannten Sicht erfahren lässt. Wenn das Werk den Betrachter nicht loslässt, wird es durch seine Wirkung zur Kunst, erzählen uns die Experten in diesem Heft. Im Zweifelsfall, sagt die Künstlerin Pipilotti Rist, siege die Stimme der Mehrheit: «Wenn von sechs vier das Werk gut finden und zwei nicht, wird es wohl eher gute Kunst sein.» So einfach ist das.