Zug - er - leben

Gudrun Sachse, erschienen im Buch: Zug erleben, 2017.


"Ihr müsst jetzt stark sein“, sagte der Pfarrer in die Stille des Zimmers. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Breit genug, dass Josef sah, wie der Pfarrer der Mutter das Kreuz auf die Stirn machte. Josef war nie aufgefallen, wie lang die Nase der Mutter war. Lang und spitz wie ein Messer thronte sie zwischen den eingefallenen Wangen. Der Geruch von Kohle und Jauche hatte sich in die Holzwände gefressen. Das Fenster im Zimmer war mit Eisblumen bedeckt, die so wundersam aussahen, als zeichneten sie den Weg der Mutter vor, wenn sie jetzt dann in den Himmel umzog.

Wo war Vater eigentlich? Im Ochsen, oder beim Nachbarn, um nach Butter zu fragen? Im Tausch gegen Kartoffeln, von denen hier oben alle mehr als genug hatten?
Als Vater heimkam, war Mutter gegangen.
Anna schälte Kartoffeln. Ihr dicker Zopf ging ihr bis an den Busen. Anna war die älteste der Kinder im Haus, fast 18 Jahre. „Die Buben müssen weg“, sagte der Vater, „die bekomme ich nicht durch den Winter“. Anna schüttelte die Schalen aus der Schürze in den Metalleimer vor ihren Füssen. „Ich geh zum Huber Hans“, sagte sie, „seine Frau kriegt noch ein Kind. Die brauchen sicher Hilfe“.
„Der Hans, der Saulump, der will dir doch nur ans Hemd“, geiferte der Vater. Dann spuckte er, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, auf den Boden. Anna nahm einen Topf und holte Wasser im Trog vor dem Haus. Dann stiess sie Holzscheite in den Schlund des Herdes und versenkte den Topf im Herd. Kartoffeln. Jeden Tag Kartoffeln.
Vater starb eine Woche später. Der Arzt hatte ihn mitgenommen, als die Buben in der Schule sassen. Ein Hirnschlag, hatte der Arzt gesagt und weder der 13-jähige Josef noch der jüngere Kaspar hatten den Mut zu fragen, wer ihm denn ins Hirn geschlagen habe. Anna war da schon fort. Im Dorf beim Huber.
Lehrer Huber war ein angesehener Mann. Seine Zunge war flink. Ebenso seine Hand. Wenn er vor den Schülern stand und sprach, war es still. 40 Kinder sassen auf den Holzbänken und sahen, wie sein Schnauz bebte, wenn er vom Toni nicht rasch genug erfuhr, was 10 minus 3 gab. Wie eine Bürste klebte der über seiner Oberlippe. „Sieben, du Dubbel, sieben!“
Wenn Anna seinen Teller abtrug, glitzerten oft noch die Suppenreste im Schnauz. „Gut hats geschmeckt, Liebes“, sagte er und zwinkerte ihr zu. Seine Buben tollten sich auf dem Holzboden. Ein Schwesterlein sollten sie bekommen. Endlich. So ein weinendes, klammerndes Mädchen, das ihre Mutter viel mehr lieben würde als sie. Die Mutter lag seit gestern im Bürgerspital - eine Stunde zu Fuss von hier, dem Seeufer entlang. Ein Auto hatte Hubers Frau geholt. Taxi Kaiser. Schnell musste es gehen. Mit der Bahn hätte sie es nicht geschafft. Es hatte eine Komplikation gegeben, als sie im Schlafzimmer jammerte und wimmerte, bis die dicke Hebamme den Hans rief: „Hol Hilfe, rasch - und bring den Pfarrer auch noch mit“. Das Wasser kochte bereits auf dem Herd. Alles war zur Entbindung bereit. Weisse Tücher, ein Hemdchen. Das Wasser wurde wieder kalt. Das Hemdchen zum Totenhemd.
„Sie ist verreckt, sie ist verreckt“, sangen die Buben in der Stube und rollten sich einen Apfel zu. Vater Huber stand auf und holte die Rute. Zapp, zapp, zapp. Da knieten sie, geduldig und verzerrten das Gesicht bei jedem „zapp“. Nur nicht weinen. Der Apfel lag reglos unter der Sitzbank.
„Elektro“, sagte Huber Hans, als er wie ein Geist neben Anna in der Küche auftauchte. Er stricht über den Herd. Dann den Arm der Anna hinauf. Den Hals entlang. Den Zopf hinunter. „Können sich nur wenige leisten. Ich bin eben nicht irgendwer.“ Der Herd war aus einem Guss. Mit einer Leitung, die man aufdrehen konnte. „Ein Wunder, gell?“, sagte er, als hätte der Huber Hans den Herd selbst erfunden, um seine Gelüste noch schneller befriedigen zu können. „Kannst ruhig mal wieder etwas dankbar sein.“ Sonntags schätzte er Hasenbraten mit Kartoffelstock. Der Hase scharf angebraten und der Stock mit Nideln statt Milch angerührt. Beim Huber war die Vorratskammer gefüllt mit Gemüse in Gläsern, ein Schinken hing an einem Haken und Würste baumelten wie Lampions von der Decke. Lehrer Huber bekam von seinen Schülern Eier als Entschuldigung fürs Reinschwatzen, Mehl für eine brauchbare Note, ein Glas Honig sollte ihn milde stimmen beim Tatzen austeilen.
Josef und Kaspar sassen vor dem Haus und gruben im Schnee. Keine Mutter, kein Vater, keine Anna. Herrenlose Hunde mit verklebtem Fell. Huber Hans war an diesem Januartag den Berg hinaufgestapft. Sein Atem stand vor Kälte in der Luft: „Ihr kommt zu mir", sagte er, packte die Buben an den Schultern und trieb sie wie auf der Alb vergessenes Vieh hinab ins Tal.
Der Josef war ein kleiner Bub, zu klein für sein Alter. Vielleicht lag es an den Kartoffeln. Immer nur Kartoffeln. Aber flink und fleissig war er und jammerte nicht, nicht über sein Nachtlager, das ihm der Huber bereit gestellt hatte, einen Sack voll Laub, nicht darüber, dass er nur Essen durfte, was übrig blieb. Zwar sassen er und sein Bruder abends mit am runden Holztisch, der Herrgott in der Ecke wachte beinmager am Kreuz, dass auch jeder sein Gebet sprach. Dann wurde das Brot geteilt. Drei Tage war es alt und zog schon Fäden, auch das Schwarzbrot war mit Kartoffeln gestreckt.
Bei Polenta in Schweinemalz gebraten, schmatzte der Huber so laut, dass es Anna in der Küche hörte und sich ins Spülbecken übergab. Sülzwurst stopfte er in sich rein, als wäre er ein Abfluss. „Stier mich nicht so an", sagte er dann zum Josef und warf ihm ein Stück Wurst vor die Nase. Doch der Josef traute sich nicht, zuzulangen. Gestern war er auf Hubers Spiel hereingefallen, als er seine Hand ausstreckte, steckte der Huber ihm die Gabelspitzen hinein und lachte.
Huber Hans bekam immer mit, wenn ein Bauer heimlich schlachtete, als hörte er das Schreien der Sau. Mit ihrem Tod kam auch der Huber. Drei Würste verlangte er für sein Schweigen. Drei mindestens. Denn wer in Kriegszeiten schlachtete, der verlor sein Anrecht auf die Fleisch-Märklein, die Hubers Frau verwaltete, wie ein strenger Vogt.
Einmal war ihm der kleine Kaspar gefolgt. Doch ein Ast hatte geknackt und der Huber hatte Kaspar erkannt, wie er hinter der Scheune hervorlugte.
Es vergingen keine 14 Tage, dann hing Kaspar an einem Kirschbaum. Ein kleiner Sack zwischen weissen Blüten. „Ihr macht uns nichts wie Schande“, sagte der Huber Hans zu Hause der Anna und tätschelte ihr das Bäuchlein. In der Schule stellte er Josef in die Ecke und liess ihn stehen bis spät am Abend. Als Warnung. Das wusste Josef. Denn der Huber konnte, wild vor Wut, weit mehr als schlagen.
Der Arzt schnitt den Strick mit einem Messer durch. Zwei Männer hielten Kaspar, bevor sie ihn ins Gras legten. Da lag der Bübel, 10 Jahre alt. „Wird wohl nicht mehr gemocht haben“, sagte der eine. „Wie auch, ohne Eltern“, sagt der andere. Und der Pfarrer, der mit dem Fuhrwerk hinzugekommen war, machte ihm kein Kreuz auf die Stirn, gedachte aber seiner Mutter – „der dieser Frevel zum Glück erspart blieb.“ Dann hoben sie das Säcklein Mensch aufs Fuhrwerk.
Hubers Frau sass hinter einem Tisch, lang wie ein Kahn, und kontrollierte die Karteikärtchen mit den Essensmärklein: Lüönd, Walder, Roth, Hürlimann. Lüönd: Mehl, Zucker, Reis; Walder: Mehl, Zucker, Salz, Wurst. Roth: Der Kaspar habe den Hans nachts bei der Metzgete beobachtet, darum sei er am Kirschbaum gehangen, sagte Roths Margrit, etwas zu laut, zur Hürlimann Vroni. „Erzähl nicht solchen Seich“, rief Hubers Frau hinter dem Kahn hervor, "der Bub war ein Nichtsnutz. Genau wie sein Bruder, den wir schon ein halbes Jahr durchfüttern.“
Anna immerhin, die war weg. Mit ihrem zu runden Bauch hatte Hubers Frau sie an einem Montagmorgen auf den Bahnhof geschickt. Aarau einfach, zu Hans’ Verwandten.
Josef kauerte auf dem Feld und sammelte Käfer. Grosse schwarze Käfer. Wenn der Nachbar wen zum Holzen brauchte, lieh man ihm den Josef. Wenn es die Schweine zu mästen gab, schickte man den Josef mit dem Eimer voll Haferbrei. Haferbrei. Josef fuhr mit seiner ganzen Hand hinein und leckte sie ab. Schnell, damit kein Schwein ihn sah und es nicht wieder Schläge gab, vom Huber oder einem der Bauern. Heftige, böse Schläge, die ihn die ganze Nacht nicht schlafen liessen. „Du musst jetzt stark sein“, sagte der Bub dann zu sich und wiederholte diese Worte, die letzten netten Worte, die jemand an ihn gerichtet hatte, immer und immer wieder.