Unerschrockene Kämpferin

Saïda Keller-Messahli hat ihren Mantelkragen hochgeschlagen, als schützte er sie nicht nur vor dem Wind, sondern auch vor Blicken. Das tut er nicht. «Toll, was Sie machen», sagt ein Bahnangestellter, als sie am Schalter ein Billett nach Kreuzlingen kauft, wo sie in wenigen Stunden einen Vortrag halten wird. «Es wäre mir lieber gewesen, er hätte nichts gesagt», sagt Keller-Messahli auf dem Weg zum Gleis. Ihr Gesicht ist bekannt. Aber zu oft gesehen, nützen Gesichter sich ab. Darum würde die 59jährige gerne einmal jemand anderen in Politsendungen und an Podien schicken – damit es nicht heisst: die schon wieder. Sicher, es gibt unzählige Freunde, die ihre Arbeit unterstützen, aber nur eine, zwei Mitstreiterinnen, die wie sie bereit sind, in den Kampf zu ziehen, die wie sie würdevoll Angriffe an sich abprallen lassen, um dann zielgenau zu kontern.

Als die gebürtige Tunesierin vor zwölf Jahren das «Forum für einen fortschrittlichen Islam» gründete, hätte Saïda Keller-Messahli nie gedacht, was auf sie zukommen würde. Vor zwölf Jahren schien in der Schweiz der Islam noch weit weg. Keiner sprach von Hotspots wie Genf, Winterthur oder Basel. Niemanden interessierte, was in den Hinterhofmoscheen gepredigt wurde. Die Schweiz war nicht Deutschland oder Frankreich, wo es Quartiere gibt, in denen verschleierte Frauen das Bild prägen, das islamische Recht, die Scharia, in Parallelwelten das Grundgesetz ausser Kraft setzen. Und doch hatte ein konservativer Islam auch in der Schweiz Fuss gefasst. Es wurde klar, dass nicht jeder, der in einer Demokratie lebt, sich den demokratischen Richtlinien beugen möchte.

Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen weit in die arabische Geschichte zurück. Der islamkritische Autor Abdelwahab Meddeb erklärt in seinem Buch «Die Krankheit des Islam», weshalb aus dem einst so souveränen Muslim, einem Weltbürger, im Laufe der Jahrhunderte ein verneinender Mensch wurde, der nicht mehr agiere, sondern reagiere, der seinen Hass gegen den «Westen» anhäufe und auf die Stunde der Vergeltung warte. «Die islamische Welt hat den Verlust der Macht noch immer nicht verkraftet.» Der Islam war bereits im 14. Jahrhundert von Entropie erfasst worden, aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts seien sich die Muslime bewusst geworden, dass sie nicht mehr auf der Höhe des Okzidents seien, die Moderne verpasst hätten.

Es war die Lektüre dieses Buches, die Saïda Keller-Messahli bewog, etwas für den Islam zu tun. Wie Abdelwahab Meddeb wollte sie den in Europa lebenden Muslimen aufzeigen, dass sie nicht nur Opfer der Geschichte seien, dass es an ihnen liege, ihr Denken zu reformieren, ihren Glauben in ein neues, aufgeklärtes Zeitalter zu führen. Sie suchte finanzielle Unterstützung für ihr Forum, schrieb unzählige Gesuche an Stiftungen. Kein Rappen floss ihr zu. «Ich will nicht jammern, aber das Geld ist ungerecht verteilt. Andere bekommen Millionen vom Ausland für Moscheen, wir haben nicht mal ein Büro», sagt sie. Dafür meldeten sich Vertreter der saudiarabischen Botschaft und boten ihr Geld an, «um Einfluss nehmen zu können». Keller-Messahli lehnte dankend ab.

Ihr Büro ist ihre Wohnung. Dort recherchiert sie, schreibt Artikel, antwortet auf die Anfragen von Muslimen, die ihre Hilfe suchen. Sie berät, wenn ein albanischer Vater mit Selbstmordgedanken spielt, weil er sich vor dem Ehrenmord fürchtet, sollte die Familie der Frau erfahren, dass er Männer liebe. Sie informiert, dass es unnötig sei, sich ständig die Hände zu waschen, wenn man mit einem Christen zusammen am Tisch sitze, der Schweinefleisch esse. Von Morddrohungen hört sie oft erst, wenn sich die Polizei bei ihr meldet: Ob sie Strafanzeige erstatten wolle, auf einer Internetseite sei sie mit dem Tod bedroht worden. Dann macht sie sich auf den Weg zum Polizeiposten. Einmal mehr. In Deutschland und Frankreich verlassen Islamismuskritiker ihr Haus nur mit Personenschutz, manch einer sitzt in einer gepanzerten Limousine. Das sei einer offenen Gesellschaft unwürdig, findet sie und fährt zweite Klasse nach Kreuzlingen. Der Zug ist gut besetzt. Keller-Messahli hat einen Fensterplatz. In ihrer Hand hält sie den Vortrag. Obwohl sie inzwischen Routine habe, sei sie immer nervös – «man weiss nie, was passiert». Sie lächelt oft, spricht gewählt. «Mir kommt zugute, dass ich eine Frau bin.» Nach dem Weltbild der Extremisten sei sie kein gleichwertiger Mensch, sondern eine «Hure des Westens». Jede Frau, die sich nicht unterordne, sei eine Hure. Sie weiss nicht, wie oft ihr diese Worte schon ins Gesicht geschleudert wurden. «Ich darf unter keinen Umständen nachgeben, ich muss dranbleiben – egal, wie verletzend oder primitiv man mir begegnet.»

Seit letztes Jahr an einer Lesung Salafisten sie verhöhnten, überlegt sie sich genau, wo sie auftritt, ob Ort und Räumlichkeit sicher genug sind. An der Volkshochschule in Kreuzlingen hat sie zugesagt, zum Thema «Welchen Islam braucht die Schweiz?» zu sprechen, obwohl der Raum, ein ehemaliger Trottenkeller, keine Fluchttür hat. Daher bat sie die Organisatorin um einen Wachmann am Eingang.

Was bedeutet der Islam für Sie?

Der Islam, den ich bei meinen Eltern kennenlernte, ist wie ein Teppich, der Geborgenheit schenkt. Es ist beruhigend zu wissen, in etwas Unerklärbarem aufgehoben zu sein. Keines der Kinder musste beten oder fasten, wenn es nicht wollte. Es gab keine Anweisungen, was eine Frau anziehen sollte. Meine Mutter trug nie Kopftuch. Unser Islam war vom Sufismus geprägt, wichtig war es, ethisch zu handeln, nicht zu lügen, nicht zu stehlen und niemandem zu schaden. Mein Islam hat nichts mit Unterwerfung zu tun.

So, wie das in vielen islamischen Ländern üblich war?

In Iran gingen die Frauen in den 1970ern im Minirock an die Uni. Im Maghreb war Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau normal. Frauen hatten dort bereits 1950 das Stimmrecht. Islam war Privatsache. Der politische Islam veränderte alles radikal. Er betrachtet den Islam als einzig wahren Glauben, den es zu verbreiten gilt.

Hat der Terror, der im Namen des Islams geschieht, etwas mit dem Islam zu tun?

Ja, die Barbarei hat mit dem Islam zu tun. Der politische Islam nennt ihn als einzig wahren Glauben, jeder Andersgläubige ist auf dem Irrweg. Das ist die Stammzelle dieses Denkens.

Findet in Europa eine schleichende Islamisierung statt?

Bis vor kurzem waren Karikaturen über Mohammed nur in islamischen Ländern verboten. Nun verzichtet auch der Westen darauf und zensiert sich damit selbst. Wir schränken unsere Freiheiten ein. Das tun wir nicht aus Respekt, sondern aus Angst und Gehorsam. Die Islamisierung hat uns über Selbstzensur erreicht. Uns fehlt der Mut zu sagen: Bei uns darf man das! Oder um von den Schülern zu sprechen, die der Lehrerin nicht die Hand geben wollen: Bei uns muss man das! Wir haben uns nicht jahrhundertelang die Freiheit erkämpft und Frauen die gleichen Werte zugestanden, damit andere sie uns wieder nehmen. Der Einfluss der Radikalen, die Intoleranz, Frauenfeindlichkeit und Rassismus predigen, ist auf Moscheebesucher in Europa sehr gross. Der Einfluss reicht bis in die Gremien der «Charta der Muslime in Europa», eines politischen Instruments der Muslimbruderschaft. Diese Charta, der rund 400 islamische Organisationen und Vereine aus 27 europäischen Ländern zugestimmt haben, möchte ein Bollwerk gegen den Laizismus sein. Die Trennung von Politik und Religion ist der Hauptfeind des Islamismus.

Saïda bedeutet auf deutsch «die Glückliche». Sie kam in einem Sommer Ende der 1950er Jahre in Tunesien auf die Welt. Ihre Eltern konnten weder lesen noch schreiben, der Vater war Bauer. Als er mit 44 erblindete, war ihre Mutter 30 Jahre alt. Dank einem französischen Grossgrundbesitzer besuchten die acht Kinder der Messahlis eine französische Nonnenschule. Diese Schule brachte die Eltern auch auf die Idee, Saïda über Terre des hommes nach Europa zu schicken, damit sie für ein paar Wochen aus ihrem Alltagselend herauskomme. In einer Gruppe mit dreissig Kindern reiste die siebenjährige nach Grindelwald. Dabei hatte sie ihr Elend daheim nie als solches empfunden. Sie lebte unbeschwert, wurde geliebt und umsorgt. Das Lehmhaus der Messahlis nahe Tunis hatte zwei Zimmer und einen Innenhof, in dem die Kinder oft die Nächte verbrachten. Ringsum blühten Orangen- und Mandelbäume.

Als Saïda zurück aus den Bergen war, machte die Pflegefamilie der französischen Nonnenschule Avancen, die kleine Saïda solle doch für immer bei ihnen bleiben. Saïdas zwölfjähriger Bruder entschied für die Familie. Wenige Wochen später stand das Mädchen mit gebräunter Haut und schwarzen Locken am Flughafen in Genf – «entsetzlich traurig, dass sie mich weggeschickt hatten».

Statt Französisch sprach sie bald nur noch Berndeutsch. «Gell, Saïda, dir bedeutet Jesus Christus nichts?» wurde sie im Dorf gefragt, man strich ihr über den Krauskopf. Saïda war unglücklich. Fünf Jahre hatte sie ihre Eltern und Geschwister nun schon nicht mehr gesehen. Die Pflegeeltern stritten sich, und als der Mann des Hauses mit einer anderen davonzog, war Saïda überflüssig geworden.

An einem Freitag um 16 Uhr kam sie aus der Schule und sollte sofort abreisen. Am nächsten Tag war sie zurück in Tunis. Es war eine Rückkehr in eine fremde Heimat. Ihre Wurzeln waren wild gewuchert, die Sprache ihrer Eltern hatte sie verlernt. Nach der Matura in einem französischen Gymnasium in Tunis arbeitete sie Ende der 1970er Jahre in Saudiarabien als Flight Attendant, «so viel Geld verdiente ich nie wieder im Leben». Sie kaufte ihren Eltern ein richtiges Haus und zog nach Zürich, um zu studieren.

Als sie sich 1982 in einen Protestanten verliebte und heiraten wollte, verweigerte man auf der tunesischen Botschaft die nötigen Unterschriften. Eine Muslimin, die keinen Muslim heiratet, undenkbar. «Ich habe gekämpft», sagt sie. Bis man der Ehe zustimmte, ohne dass ihr Mann den Glauben wechseln musste, «was ich nie zugelassen hätte».

Die Mehrheit der hier lebenden Muslime ist nicht organisiert, warum?

Sie sind integriert und sehen offenbar keine Notwendigkeit. Dabei ist es wichtig, dass sich die schweigende Mehrheit vereint und für einen humanen Islam einsetzt. Sonst überlassen wir das Feld den radikalen Kräften. Nur etwa 10 bis 15 Prozent der Muslime sind in Moschee-Verbänden, wie etwa dem Verein der islamischen Organisationen Zürich (VIOZ). Schweizer Politiker halten den VIOZ für einen liberalen Verein, mit dem sich bestens über den Islam diskutieren lässt. Am Tisch machen die Herren auch alle einen guten Eindruck. Bis sich herausstellt, dass in Moscheen radikalisiert wird, die dem VIOZ angehören. Oder dass beim VIOZ Salafistinnen als Seelsorgerinnen diplomiert werden, also auf junge Menschen losgelassen werden. Dabei steht das in der Verantwortung des VIOZ. Für den Kurs «Seelsorger» hat der Verein eine halbe Million vom Lotteriefonds des Kantons Zürich erhalten.

Wo hat die Schweiz in ihrer Integrationspolitik Fehler gemacht?

Man war zu naiv und unkritisch. In den 1960er Jahren hatte man keine Ahnung, wem man die Tür öffnet. Einwanderung ist gut, nur sollte sich bei den Neuankömmlingen das Geben und Nehmen die Waage halten. Es wurden von Schweizer Seite nicht einmal die geringsten westlichen Standards verlangt, und so entstanden Vereine und Verbände, die sich ihre Regeln selbst auferlegten, diese Verbände festigten sich und wurden europaweit zu den Gesprächspartnern für die Politik. Heute machen sie selbst Politik. Das ist das Problem. Religion und Politik ist bei ihnen eins. Nach so vielen Jahren Korrekturen vorzunehmen ist schwierig. Aber wenn wir jetzt klare Regeln durchsetzen, ist es noch möglich.

In Kreuzlingen steht ein Wachmann an der Tür. Saïda Keller-Messahli hängt ihren Mantel an die Garderobe. Sie trägt eine orangefarbene Seidenbluse und den passenden Schal. Das Publikum ist gesetzten Alters, rund zweihundert Schweizer, die sich darum sorgen, dass Menschlichkeit und Angst vor dem Fremden plötzlich nicht mehr in Einklang zu bringen sind.

Saïda Keller-Messahli spricht gewandt. Ihre Regeln lauten: 300 Moscheen und Kulturvereine in der Schweiz genügen, die Moscheen müssen streng kontrolliert werden, Vorbeter dürfen nur mit behördlicher Bewilligung reden. Es braucht einen Islam ohne Kopftücher, ohne Männer, die Frauen dominieren und sie um ihr Selbstbestimmungsrecht bringen. Einen Islam ohne Parallelgesellschaften, wie in Düsseldorf oder Köln, wo sich Salafisten als Polizisten aufspielen. Einen Islam, der vor der eigenen Tür kehrt.

Ein Zuhörer steht auf und bedankt sich dafür, «dass Sie, liebe Frau Keller-Messahli, gesagt haben, was wir immer hören wollten, uns aber nie ein Muslim gesagt hat». Applaus. Gegen 22 Uhr leert sich der Trottenkeller. Die Organisatorin steckt dem Gast einen Umschlag mit 300 Franken Honorar zu. Erleichtert gehen die Besucher heim. Erleichtert, weil es ja diese Frau gibt, die es schon richten wird mit den Muslimen.

Es ist 23 Uhr. Am Bahnhof Kreuzlingen sucht Saïda Keller-Messahli in ihrer Handtasche das Telefon. Sie findet Schlüssel, Zeitschriften und Papier. Ihr Handy muss sie vergessen haben. Sie stellt sich auf die Strasse und stoppt einen Lieferwagen. Der Fahrer bringt sie zurück zum Trottenkeller. «Sie sind mein Schutzengel», sagt sie auf dem Beifahrersitz, «die gibt es auch im Islam.»

Es ist nach Mitternacht, als sie in Zürich am Hauptbahnhof aussteigt. Ihr Handy piept. Eine Nachricht von ihrem Sohn. Er fragt, ob es ihr gutgehe. 


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Muslime in der Schweiz", 2016.