Dank Michael Welland weiss die Welt von einem Problem mehr. Einem gigantischen dazu. Dabei geht es um ein winzig kleines Korn, um einen Rohstoff, der so unscheinbar ist wie unentbehrlich.
Auch Michael Welland ist in seinem Haus im Süden Londons von ihm umgeben: Sand steckt in den Mauern, ebenso in den Fenstern hinaus zur begrünten Veranda, der Mikrochip in seinem Computer funktioniert dank ihm, und auch die Weingläser auf dem Couchtisch, in die er zur Begrüssung Weisswein füllt – alles aus Sand. Hinter ihm, auf einem Regal, stehen mit Sand gefüllte Fläschchen. Welland sammelt ihn, wo immer er ist. Manchmal bekommt er ihn auch von Arenophilen geschenkt. Das sind Sandliebhaber, die ihre Funde im Internet und auf Tauschbörsen anbieten. Eher zufällig wurde der Geologe zu ihrem Helden. Dass sein Buch «Sand. The Never-Ending Story» vor fünf Jahren zum Bestseller würde und er zum beachteten Fachmann, damit hatte er, trotz aller Begeisterung für das Korn, dann doch nicht gerechnet.
Besonders mag er diesen Roten aus der Sahara. «Auch wenn der zu weniger nutze ist als der Hellgrüne ganz hinten links.» Dann schiebt er die Brille auf die Stirn und hält das Fläschchen mit den rot schimmernden Sandkörnern dicht vor seine Augen, als könnte er so das Gewimmel von kleinen Organismen erkennen. «Hier drin ist mehr los als in jedem Regenwald», sagt er. Und auch diesem Regenwald droht also nun das Aus.
Der Rohstoff Sand ist ein Milliardengeschäft der Sand-und-Kiesabbau-Firmen. Sand ist so billig wie kein anderer Rohstoff und gleichzeitig der nach Wasser am meisten gebrauchte. Weltweit werden jährlich um die 60 Milliarden Tonnen Sand abgebaut. Die Zahlen beruhen auf Schätzungen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep). Hergeleitet wurden sie aus den jährlich verbauten Betonmassen. Beton ist der wichtigste Baustoff überhaupt. Ein Kubikmeter Frischbeton besteht aus etwa 600 Kilo Sand, 1400 Kilogramm Kies, 150 Litern Wasser und 300 Kilo Zement. Wobei auch Zement zu einem Grossteil aus Sand und Kies besteht.
Pro Jahr werden 30 Milliarden Tonnen Beton verbaut. Daraus liesse sich, so das Unep, eine gigantische Mauer um den Äquator errichten – 27 Meter hoch und 27 Meter breit. Riesige Mengen Sand verschwinden zudem in der künstlichen Landgewinnung, für den Strassenbau, in der Industrie oder für das Fracking, bei dem Sand, vermischt mit Wasser und Chemikalien, unter Druck in tiefe Gesteinsschichten gejagt wird, um Erdgas zu gewinnen. Wir verbrauchen, so warnt das Unep, die doppelte Menge Sand, die alle Flüsse weltweit pro Jahr produzieren.
Am Tag zuvor war Michael Welland aus Frankreich zurückgekehrt, mit dem Flugzeug, in dessen Rumpf übrigens auch Sand steckt. Wie jedes Jahr verbrachte er mit seiner Frau dort einen Monat. Ihr Strand war von den Fluten weggespült worden. So sei das eben, sagt Welland. «Sand kommt und geht.» Meist auf natürlichem Weg. Immer öfter aber durch menschliches Zutun.
An Wellands Strand kamen nachts keine Männer mit Schaufeln, um Sand in Säcke zu füllen. «Sanddiebe, wie es sie in Marokko gibt», sagt Michael Welland. Jährlich werden dort von ihnen 10 Millionen Kubikmeter Sand illegal abgetragen und an die heimische Bauindustrie verkauft. Und das seit mehr als zehn Jahren. Im Dienst der Sandmafia hinterlassen sie Krater und karge Felsen. Auch in Indien verschwinden illegal Strände und werden Flüsse geplündert. Die Sandräuber suchen nach Mineralien wie Eisen, Titan, Gold oder Diamanten, die im Sand enthalten sind. Und so hinterlässt der Raubbau seine Spuren speziell in Afrika und Asien.
Während Welland in Frankreich mit seiner Frau das Abendessen zubereitete, sogen draussen auf den Weltmeeren Schwimmbagger mit ihren 85 Meter langen Saugarmen Sand vom Meeresboden an. Bleibt das Schiff vor Ort, entstehen Kuhlen von bis zu zehn Metern. Zieht das Schiff ein Rohr mit einem Schleppkopf hinter sich her und fährt langsam die Route durch das Baggergebiet, wird vom Boden eine Schicht von 25 bis 50 Zentimetern Dicke abgetragen. Sand auf diese Weise abzubauen ist beliebt, auch wenn das Verfahren technisch aufwendig und teuer ist, zumal der Sand anschliessend mit Süsswasser gereinigt werden muss, da das Meerwassersalz rund um die Körner das Metall im Stahlbeton angreifen würde. Schwimmbagger kosten bis zu 150 Millionen Euro. Um an diesem Markt teilzuhaben, braucht man eine Flotte. Und damit die sich rechnet, wird gesogen, was der Boden hergibt. 400 000 Kubikmeter Sand pro Tag schafft ein Bagger. Mehrere Tausend davon kreuzen in diesem Moment vor den Küsten.
Was lebt, stirbt durch den Sanddruck im Staubsaugerrohr. Korallen ziehen sich zurück, Fische finden keine Nahrung mehr. Fischer verlieren ihre Existenzgrundlage. Keiner weiss das besser als Alain Bidal. Der Bretone ist der Sprecher der Bedrohten. «Peuple des Dunes» nennt sich die Gruppe, die den Kampf gegen den Sandabbau vor ihrer Haustür aufgenommen hat. Der 64jährige pensionierte Banker, der nicht nur in seinem Enthusiasmus an einen tapferen Gallier erinnert, lebt seit über 35 Jahren in Trébeurden an der Côte de Granit Rose. Er kennt die Fischer, die um ihre Existenz bangen, seit sie Kinder waren. Seit er zum Anführer der «Peuple des Dunes» ernannt wurde, kennt er auch alle wichtigen Minister. Und das, weiss er, ist in so einem harten Kampf wichtiger als jeder Zaubertrank.
Ende 2010 vernahmen die Trébeurdener zum ersten Mal, dass nur 5 Kilometer vor ihrer Küste eine Düne abgetragen werden sollte. «Die Düne liegt zwischen zwei Schutzzonen», sagt Bidal, «wie konnte der französische Staat, der das Gebiet unter Schutz gestellt hat, das nur erlauben?» Die Düne sei ein Schutzraum des Lançon, eines kleinen Fisches, unentbehrlich in der Nahrungskette. Ist der schillernde Fisch mit seinen hell leuchtenden Glupschaugen erst weg, könnten auch die Fischer ihren Fang hier vergessen. Doch das ist nur ein Punkt auf Bidals Schadensliste. Weitere Fischnamen stehen darauf, Vogelarten, die Angst vor den eisigen Stürmen des Winters, bei denen Sand immer auch als Schutzwall dient, und die Touristen, die wegbleiben werden, weil sie keine schwimmenden Bagger auf dem Meer sehen möchten.
«Wir sind keine Ökofundis», sagt Bidal. Natürlich weiss er um die Wichtigkeit des Rohstoffes Sand. Die Bevölkerung wächst, die Ansprüche steigen: In einem einfachen Einfamilienhaus stecken 350 Tonnen Sand und Kies, 30 000 Tonnen braucht ein Kilometer Autobahn, 12 Millionen Tonnen ein Atomkraftwerk. Sand ist in der Zahnpasta, Quarzsand kommt bei jedem Brauer ins Bier. Trébeurdens Dünensand soll für die Herstellung von Düngemittel genutzt werden. «Auf dem Festland muss der abgetragene Boden wiederhergestellt werden, aber nicht am Meeresgrund», beklagt sich Bidal.
Alain Bidal organisierte Kundgebungen, stämmige Fischer bekamen Transparente in die Hände gedrückt, ihre Worte schallten aus Lautsprechern, obwohl ihnen nichts ferner lag, als die eigene Stimme über den Strand ziehen zu hören. Zuerst berichteten nur die lokalen Zeitungen und Radiostationen. Jetzt plane auch «Paris Match» eine grosse Geschichte, sagt Bidal stolz. Er will den Sand zum politischen Thema machen. Bisher steht der nämlich auf keiner Agenda. Kürzlich gewann Bidal für sein Anliegen Europaabgeordnete und deponierte eine Petition in Brüssel. Der Entscheid des französischen Wirtschaftsministers wurde daraufhin blockiert. Nun wartet er mit seinen Mitstreitern auf eine Neubeurteilung des Dünenprojekts. Bidal trifft Arnaud Montebourg diese Tage in Paris. Ein wenig nervös sei er schon, sagt er. Beruhigt hat ihn allerdings ein Schreiben von Ségolène Royal, die er persönlich kennt und die ihm mitgeteilt habe, dass sie ganz seiner Meinung sei: «J’ai exprimé mon opposition à ce projet.»
Während an der Rosengranitküste die Hoffnung auf ein glückliches Ende noch nicht begraben ist, versinken andernorts Inseln im Meer. In Indonesien verschwanden seit 2005 24 kleine Inseln. «Nach Erosionen wegen des illegalen Sandabbaus», sagt Geologe Michael Welland. Verkauft werde der Sand nach China, Thailand, Hongkong oder Singapur für gigantische Bauprojekte. Singapur hat seit den 1960er Jahren seine Fläche um 20 Prozent vergrössert. Und obwohl Indonesien, wie Kambodscha und Vietnam, den Export von Kies und Sand seit 2007 verboten hat, werde weiter wacker abgebaut, sagt Welland.
Der smarte Südafrikaner Jan Hofmann ist oft unterwegs. So will es sein Job. In Singapur, sagt er, liefen die Geschäfte gut. Hofmann gehört bei Holcim zur Führungsriege. Nächstes Jahr werden der Schweizer Weltmarktführer Holcim und die Nummer zwei aus Frankreich, Lafarge, zum grössten Zementkonzern der Welt werden; sie sind dann in 90 Ländern tätig und kommen zusammen auf einen Umsatz von 39 Milliarden Franken.
Holcims 16 Kiesgruben und Steinbrüche in der Schweiz liefern jährlich 7 Millionen Tonnen Kies, Sand und Schotter. Sand, der auch ihren Betonwerken zugeführt wird. 34 Betonwerke produzieren mehr als 1,7 Millionen Kubikmeter Beton pro Jahr. Bevor Jan Hofmann zu Holcim kam, war er im Kohleabbau tätig.
Holcims Kieswerk in Hüntwangen kennt Hofmann nur aus der Anflugperspektive, «wie schön es kurz vor der Landung in Kloten unter einem liegt». Seit 15 Jahren wirbelt hier dem Werkleiter Stephan Jud der Staub ums Gesicht. Er steht auf dem Dach des Kieswerks und blickt durch seine Schutzbrille über die 30 Hektaren Gelände, die teils mit Wald überwachsen, teils von Bauern bewirtschaftet und nett begrünt sind. Nur 10 Hektaren sind offener Arbeitsraum, das Maximum, das die kantonale Richtlinie zulässt. Nach dem Leerbaggern werden die Gruben mit Aushub aufgefüllt, oben kommen ein Meter Roterde und 30 Zentimeter Humus darauf, und dann wird 5 Jahre lang beobachtet, ob auch alles ordnungsgerecht gedeihe. Jud kann es nicht oft genug wiederholen. 10 Jahre, schätzt er, werde man hier noch abbauen können. Und wäre da nicht «dieser Wald», dann noch etwas länger. Klein wie Spielzeuge kurven in der Ferne die Lastwagen über den Schotter. Jud liebt diese schweren Geräte. Hinter dem Steuer sitze er aber nur noch, wenn Not am Mann sei. Ein Seilbagger löst 4000 Tonnen Gestein pro Stunde, das mit Pneuladern auf eine 5 Kilometer lange Bandanlage befördert wird. Im Werk werden pro Stunde 750 Tonnen Gestein gewaschen, gesiebt und siliert. Schmutzige Klumpen rumpeln wie Kartoffeln in den Maschinen. Es kracht und knackt von vier Uhr morgens bis abends um halb elf. Man rackert, solange es noch Sand gibt.
Bereits Ende der 1980er Jahre haben Wissenschafter auf die nahende Sandknappheit in der Schweiz hingewiesen. Auch wenn die Gründe dafür löblich sind: ein strenger Wald-, Landschafts- und Grundwasserschutz; aber auch die Ausscheidung von Bauzonen, denn wo Häuser stehen, kann kein Sand gewonnen werden. Schweizweit werden jährlich 50 Millionen Tonnen Sand an 500 Stellen abgebaut. Um den Bedarf zu decken, muss die Schweiz zusätzlich 7,3 Millionen Tonnen Sand importieren. Das nur ungern. Das Sandgeschäft ist in allen Ländern ein lokales Business, denn der Sandtransport ist teuer. Bereits 40 Kilometer können einen Drittel des Materialwerts ausmachen. Daher wird für Bauvorhaben wann immer möglich Sand aus nächster Nähe bezogen.
Gute Geschäfte lassen sich ausgerechnet in den Ländern machen, in denen es Sand in Fülle gibt – Wüstensand ist fürs Bauen nicht geeignet. Er ist zu rund und glatt. Die künstliche Insel The Palm in Dubai wurde daher mit 150 Millionen Kubikmetern Sand vom Meeresboden in Form gespritzt. Die Nachbarinsel The World verschlang die dreifache Menge. Für das höchste Gebäude der Welt, das Burj Khalifa, brachten Schiffe 257 000 Kubikmeter Sand aus Australien.
Dass ausgerechnet Wüstenstaaten für ihre Prestigebauten solche Ressourcen verschlingen, sei Irrsinn, sagt Guillaume Habert, Professor für nachhaltiges Bauen an der ETH Zürich. Dort tüftelt der junge Franzose an alternativen Lösungen. Lehmhäusern etwa, denen aber, wie er zugeben muss, kaum die Zukunft gehören wird. «Wir werden immer Beton brauchen.» Massvolles Bauen sei der richtige Weg. Aber wie erkläre man das den auf Wachstum ausgerichteten Investoren? «Bleibt noch das Recycling», sagt er. Zwar liege man da in Europa im weltweiten Vergleich weit vorne, absolut gesehen jedoch noch immer sehr weit hinten. Das Problem dabei sei, dass man für die teure Rückgewinnung von Sand aus Beton sehr viel Energie benötige.
Michael Welland füllt angesichts dieser wenig berauschenden Aussichten die Gläser erneut mit Weisswein auf. Die Trauben dafür sind auf neuseeländischem Sandboden gewachsen. Es könne Hunderte Jahre dauern, bis ein Sandkorn von den Bergen ins Meer gelange, erklärt Welland den Weg des kleinen Korns, das auf seiner Reise viel Ungemach erwartet. Staudämme etwa, die die Wasserströme aufhalten, kaum ein Fluss erreicht heute noch ohne Unterbrechung sein Ziel. Und so wird uns der fehlende Sand bald den Schlaf rauben, denn auf natürlichen Nachschub, sagt Welland, sei nicht zu hoffen.
Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Rohstoffe", 2014.