Wie ein schlecht gefilterter Kaffee, der am Gaumen klebt, so werden Millionen kleinster Partikel dem Taucher die Sicht nehmen. Im kümmerlichen Schein der Taschenlampe sieht er in der Brühe einen Fisch vorbeiziehen. Allerhöchstens. Grau und nicht greifbar, auf der Suche nach seiner Beute. So stelle ich mir das vor, dort unten im Zugersee. Und ich frage Hansjürg, einen Mann, der fast so lange taucht, wie er gehen kann, ob er mich in die Glungge begleiten möge.
Bevor er mich mitnimmt, muss ich ins Schwimmbad. Zur Strafe, vermute ich. «Denn die Glungge», sagt Hansjürg, «ist einer der schönsten Tauchgründe im Mittelland.» Nun ist das Mittelland nicht Mitteleuropa. Und doch überrascht diese Einschätzung. Was mag den weitgereisten Mann mit den Lachfalten dazu bewogen haben, das zu sagen?
Ich sitze auf dem Boden des Beckens und sehe durch die Taucherbrille einen Fussel leicht und anmutig durch das Chlorwasser treiben. Auch Hansjürg dreht sich nach rechts und links, gleitet elegant den Boden entlang und zeigt auf die zappelnden Beine einiger Wassergymnasten, die wie pralle Grittibänzen von einem Luftgurt getragen über uns gegen Rheuma und Völlegefühl ankämpfen. Ich atme ruhig und tariere aus. Die Flossen, hart und schwer, hängen lustlos an den Füssen. Der Körper werde gewichtslos, hatte Hansjürg gesagt, die Flasche mit der Luft auf dem Rücken würde ich nicht bemerken. Sie drückt gegen den Hinterkopf, wenn ich nach oben blicke, wo ich ohne Hilfsmittel atmen könnte. Ein Geschenk, das ich bis dahin viel zu wenig schätzte.
An meiner Weste führt ein Schlauch entlang. An ihm hat es zwei Knöpfe, mit denen sich der ideale Schwebezustand herstellen lässt. Es geht um den Ausgleich von Auf- und Abtrieb. Austarieren nennt sich das. Der Taucher hat durch seinen Anzug einen Auftrieb, der durch Bleigewichte kompensiert wird, was das Abtauchen unter die Wasseroberfläche ermöglicht. Während der Abstiegsphase fülle ich die Tarierweste stossweise mit Luft, damit sich in der gewünschten Tiefe Auf- und Abtrieb ausgleichen. Nach zehn Tauchgängen sollte ein durchschnittlich begabter Taucher die Knöpfe beherrschen, sagt Hansjürg. Flupp. Bucklig treibt es mich an die Wasseroberfläche und pssst... wieder hinunter. Dank der beschlagenen Taucherbrille kann ich den Blicken von Hansjürg entgehen. Was er wohl denken mag? Er denkt: Wir sehen uns nächsten Freitag nochmal im Schwimmbad.
Hansjürg kennt mehr als das Mittelland. Mehr als Mitteleuropa. Im Winter schneidet er mit der Motorsäge Löcher ins Eis von Gebirgsseen. An einem Seil befestigt taucht er unter der Eisdecke entlang, um sie zauberhaft schimmern zu sehen. Auf der Halbinsel Yucatan in Mexiko erforscht er Kalksteinhöhlen und unterirdische Wasserläufe, welche die Mayas als Eingänge zur Unterwelt betrachteten.
Möchte er weiter eintauchen, hängt er sich an einen Unterwassertorpedo, der ihn, als wäre er James Bond, durch das Wasser zieht. Hansjürg taucht auch gerne tief. Dazu braucht er sechs Flaschen voll unterschiedlicher Atemgase, die er an seinen Anzug hängt. Wichtig ist ein Heliumgemisch, um in der Tiefe keinen Rausch zu bekommen. Und natürlich ein Gas, das beim langsamen Auftauchen das Helium wieder aus dem Körper befördert. Weiter oben atmet er ein sauerstoffreiches Gas ein, um die Dekompressionsphase zu unterstützen, da sich bei zu schnellem Aufstieg im Körpergewebe und in den Körperflüssigkeiten lebensgefährliche Gasblasen bilden. Die Gefahr bestehe bei dem, was ich vorhätte, nicht, sagt er. Jede seiner Flaschen wiegt um die 15 Kilo. Weil das unter Wasser keine Rolle spielt, ist Hansjürg auch kein Brocken in Badehosen, sondern ein hochgewachsener, schlanker Mensch gegen sechzig mit wiederkehrendem Zwicken im Rücken.
Hansjürg war immer lieber unter dem Wasser, auch zum Rugbyspielen. Dafür wird der Ball mit Salzwasser gefüllt. Die Spieler halten die Luft an und alle vier oder fünf Minuten schnappen sie sich oben wieder neue. Apnoe tauchte er auch. Mit einem Bleigurt rast man hinab in die Tiefe, bis die Lunge nicht mehr kann.
Einen wie ihn sollte die tiefste Stelle des Zugersees doch reizen. «Was soll ich dort», sagt er. Lieber lässt er sich im Wasser treiben, gleitet an den Steilwänden entlang, die den Zugersee so einmalig machen, und blickt einem Hecht in die Augen, wenn der unerwartet wie ein Ungeheuer aus der Dunkelheit heranschwimmt. Oder er findet sich in einem Schwarm kleiner Fische wieder, die seinen Anzug von allen Seiten anpicken, was sich anfühlt, als stächen klitzekleine Nadeln auf ihn ein. Dafür muss man nicht auf 198 Meter hinunter, so viel misst die tiefste Stelle. Eine solche Tiefe ist nur in Spezialausrüstung und mit vielen Tagen Vorbereitung zu erreichen. Das macht nur, wer dort etwas erhofft. Hansjürg gehört nicht mehr dazu.
Einmal fand er eine Kiste. Ihr Schloss war verrostet und unter Wasser nicht zu öffnen. Mit Seilen und Trägern hievte er die Kiste an Land. Er hebelte und hämmerte, bis sich der Deckel öffnete. Doch statt eines Schatzes war es eine leere, gammlige Fischkiste. Er fand Velos, Töffli, aufgebrochene Glücksspielautomaten und leere Portemonnaies. Er fand menschliche Knochen und einen Schädel. Manchmal wird er auch beauftragt, etwas zu suchen: Eheringe, die den Schwimmern zu locker am Finger sassen, ein Gebiss, das bei einem Sprung vom Steg aus dem Mund fiel. Nach heftigen Stürmen taucht er nach Schiffsfinnen und Zubehör schöner Yachten. Die Degen und Messer, die auf dem Grund dieses Sees liegen, fanden immer nur die Zürcher.
Zürich hat eine archäologische Tauchgruppe, die im Auftrag der Zuger Behörden den See absucht. Im Laufe der Jahre wurde schon etliches geborgen: eine Doppelaxt aus der Jungsteinzeit, ein Einbaum aus Lindenholz, zwei Scheibendolche, die Hunderte von Jahren auf dem Seegrund lagen, ein langes Messer, das zur Jagd am Hosenbund getragen wurde. Es stammt aus einer Zeit, als im See erstmals der Unglücksfisch gesehen wurde. Fischer hatten ihn 1509 in der Nähe von Arth gesichtet. Er sah aus wie ein Karpfen und war lang wie ein Einbaum. Wo immer der Unglücksfisch auftauche, besagt eine Sage, ziehe Krieg und Tod über das Land, oder die Teuerung. Hansjürg ist ihm bei seinen vielen Tauchgängen nie begegnet. Auch nie der mit Fischschwanz gezierten Jungfrau, die in der versunkenen Vorstadt ein zufriedenes Leben führen soll.
Hansjürgs erster Tauchgang fand im Luzerner Rotsee statt. Es war Winter. Hansjürg hatte sich einen Anzug ausgeliehen und rutschte mit nackten Füssen über den Schnee ans Ufer, wo sein Freund auf ihn wartete. Sie hatten nur eine Pressluftflasche dabei, die sie sich unter Wasser teilten. In den 1970er Jahren waren Taucher noch Draufgänger, verwegene Jungs, die das Abenteuer suchten. Ausrüstungen gab es in nur wenigen Läden für viel Geld. Hansjürg klebte sich seinen ersten eigenen Anzug aus ausrangierten Stücken zusammen, aus alten Veloschläuchen bastelte er sich seine Tauchweste. Um unter Wasser etwas zu sehen, legte er eine Armeetaschenlampe in ein Einmachglas und tauchte fortan damit. Heute lernt jeder tauchen. Auch Menschen, die Angst davor haben, den Kopf unter Wasser zu halten. Alle tauchen sie, um in den Ferien gestreifte Fische und Korallenriffs zu bestaunen, sie schwimmen neben Haien und locken Rochen aus ihren Höhlen. Nach den magischen Momenten schwören sie, die Natur zu ehren. Zurück auf der Liege, essen sie ihr Eis am Stil und trinken aus der PET-Flasche, die irgendwie im Meer landet. Genau wie die anderen acht Millionen Tonnen Plastikmüll, die in den Ozeanen schwimmen. In zehn Jahren wird es doppelt so viel sein. Die Meere, sagt Hansjürg, verdrecken immer mehr. Hansjürg ist kein Typ der jammert. Aber angemessen wäre es, sagt er.
Das Plätzchen, das Hansjürg für meinen Tauchgang ausgesucht hat, heisst Zigeunerplatz. Vermutlich, weil hier früher – als das Wort und die Menschen noch nicht verboten waren – Zigeuner ihr Päuschen machten. Eine kleine Bucht zwischen Walchwil und Oberwil mit Bäumen und Parkplätzen. Dahinter geht es bergab zu einem kleinen Kieselstrand. Die Ausrüstung ist schwer. Der kurze Pfad erstaunlich steil. Ich lege mich ins Wasser, das sich kalt unter dem Tauchanzug ausbreitet. Es fliesst die Beine hinauf, dann hinten den Nacken hinunter. Ich atme ruhig und tariere aus. Die Sonne bricht durch das Wasser und lässt den Grund hellgrün, grün, grau schimmern. Zwei Schwäne am Ufer graben ihre Schnäbel in den Grund.
Aus der ganzen Schweiz und dem nahen Ausland reisen die Taucher für den Zugersee an. Ist der glatt und scheint die Sonne, lassen sich auf dem kleinen Computer am Handgelenk die Zahlen noch in 30 Metern Tiefe ablesen. Auch ohne Taschenlampe sieht man dann zehn Meter weit. An anderen Tagen ist bei knapp 50 Zentimeter unter Wasser Schluss. Es wimmelt von Schlick und Algenresten. Doch wie das Wetter unter Wasser ist, das merkt man dummerweise erst, nachdem man in Vollmontur abgetaucht ist.
Es war nicht Hansjürg, sondern Peter, der im September 2010 den Degen fand, der als Excalibur vom Zugersee in die lokale Geschichtsschreibung einging. Hansjürg wäre als Jüngling gern zu den tauchenden Archäologen gegangen, doch die Zürcher Truppe gab damals den Einheimischen den Vorrang, der Zuger sollte bleiben, wo er herkam. Mittlerweile nehmen sie auch Süddeutsche, wie Peter. Der erinnert mit seinen zwei grauen Bartsträngen an einen unterbezahlten Komparsen für einen Mittelalterfilm. Mit einem Kollegen schwamm er auf einem Prospektionstauchgang das Ostufer des Zugersees ab. 6,8 Kilometer. 14 Stunden dauert so ein mehrtägiger Tauchgang. Ihre Pressluftflaschen liegen dabei auf der Seeoberfläche und sie tarieren sich im Wasser mit ihren Trockentauchanzügen und mit kleinen Veränderungen der Körperhaltung aus. Mit ihren groben Handschuhen wedeln sie den Schlick von der Oberfläche des Seegrunds, von Hölzern und Planken. «Knochenarbeit», sagt Peter, im Anzug sei er oft klitschnass. Peter ist Feuchtbodenarchäologe, er taucht im Flachwasser, wo die Fundstellen sind, und nicht so tief wie Hansjürg. Plötzlich fühlte er einen länglichen Gegenstand mit einem eigenartigen Griff. Ein Spielzeug, ein Theaterrequisit vielleicht, dachte Peter. Er war auf 1,5 Metern Tiefe und zog das Ding aus dem Schlick. Mit der Klinge voran tauchte er aus dem Zugersee auf.
Keinen Abfall zu finden, sondern ein spätmittelalterliches Prunkschwert, das ist etwas Besonderes. Obwohl man bei den Zürcher Archäologen nicht recht nachvollziehen kann, weshalb man ihm den Namen Excalibur geben musste. Komparse Peter wäre damit der Artus des Zugersees. «Schreiben Sie so etwas Blödes bloss nicht», sagt er.
Peter und seine Handvoll Kollegen aus Zürich haben aber noch anderes auf dem Grund des Sees zu suchen. Im Zugersee liegen Pfahlbaufundstellen von archäologisch hohem Wert. Alles, was der Mensch damals produzierte, vom Stoff bis zum Getreide, ist dort organisch erhalten. Die Reste von Pfählen und Siedlungsanlagen werden zum Schutz vor Erosion mit Kies überdeckt, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Am Zugersee gibt es drei Stätten des Unesco Welterbes. Entdecken die Taucher etwas, wird die Umgebung gesichert. Ähnlich wie nach einem Mord werden Schnüre um und über den Tatort gespannt. Felder einrichten, nennt sich das in der Fachsprache. Die Felder werden fein säuberlich gereinigt, vorsichtig, um das Ökosystem und die möglichen Funde nicht zu beschädigen, ein Strahlrohr sorgt dafür, dass die aufgewirbelte Sedimentwolke nicht vor dem Gesicht des Tauchers tanzt. Das Wasser ist trüb, die Maske gibt nur wenig Sicht frei, der Anzug kneift, nur der eigene Atem ist zu hören. Dann fotografiert jeder Taucher, was er freigewedelt hat. Die Bilder kommen in Archive. Was sich nicht vor der Erosion schützen lässt, wird ausgegraben, restauriert und eingelagert.
Wenn ich Unbedarfte in Ufernähe tauche, kann es also sein, dass vor vielen tausend Jahren an diesem Ort ein Suppentopf stand. Dass eine Familie den Eintopf daraus ass, nicht ahnend, dass dereinst an den Gestaden nicht mehr gefischt, sondern Handel mit der Welt getrieben wird, der vielfach trüber ist als der Zugersee nach einem Herbststurm. Grau und nicht greifbar.
Text von Gudrun Sachse, erschienen im Zuger Neujahrsblatt, Zugersee, 2016