Knastkost


«Tag, Klaus, hast du irgendwelche Informationen wegen Brot wegschmeissen?» Klaus hat nicht. «Ne, du», sagt er zum Aufseher. Immer diese Brotprobleme, und er darf nicht handeln, dabei wüsste er doch genau, was zu tun wäre.

Klaus Wendorf ist Koch in der Justizvollzugsanstalt Berlin Tegel. Er steht im Eingang von Haus eins. Es ist eng wie in einem U-Boot, links eine Wendeltreppe aus Metall, das Licht brennt, es ist halb zwölf Uhr mittags. Die Männer sind aus ihren Zellen gekommen und haben sich in eine Reihe gestellt, einen tiefen Teller in der Hand, in dem zusammenläuft, was Klaus Wendorf zu verantworten hat: Kartoffelbrei, Sauce und Gemüseröstling. Jeder hat seinen eigenen Teller, jeder sein eigenes Besteck. Geht der Teller zu Bruch, muss er einen neuen kaufen – für 2 Euro 50. Die Anstaltsleitung überlegt sich, den Inhaftierten zwei Teller zur Verfügung zu stellen, einen flachen und einen tiefen. Sei ja schade um das Essen, das so zusammengerutscht einfach nicht wirke. Aber das ist vorerst eine Überlegung. Das hat noch Zeit.

Aus Wärmebehältern schöpft ein Inhaftierter das Mittagessen für seine Mitgefangenen. Gepöbelt wird dezent. Ein Spruch hier, ein Ellenbogen da. Fast täglich gibt es deutsche Hausmannskost. Diese Woche stehen noch Blutwurst mit Kartoffeln und Wirsingkohleintopf mit Suppenfleisch auf dem Plan. «Wir versuchen schon auch eine internationale Note reinzubringen», sagt Wendorf und verweist auf das Pouletgeschnetzelte Asia mit Reis von morgen. Aber eigentlich hätten die Häftlinge Kartoffeln lieber, sagt Klaus Wendorf, «aus den Resten brutzeln sie sich abends Bratkartoffeln».

Frühstück und Abendessen bereiten die Häftlinge in Kochnischen selber zu. Brot, Aufstrich, Wurst oder Käse und Kaffee-Ersatz werden am Abend für den nächsten Tag in die Häuser geliefert. Pro Mann müssen 250 Gramm Margarine und ein 225-Gramm-Becher Marmelade für eine Woche reichen. Laut Deutscher Lebensmittelgesellschaft braucht ein Gefangener täglich zwischen 2400 und 2800 Kalorien. Laut Budget der JVA Tegel darf Wendorf höchstens 2 Euro 40 pro Mann und Tag dafür ausgeben. Das Mittagessen ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Die Häftlinge nehmen sie in ihren Zellen ein. In der Enge einer Einzelzelle gleich neben der Toilettenschüssel.

Klaus Wendorf erinnert an einen guten Grossvater, der nicht viel zu sagen braucht, um respektiert zu werden. Neben ihm steht man gerne, weil er immer etwas nach Essen duftet und man nicht überrascht wäre, wenn er aus seinem weissen Küchenkittel eine Tafel Schokolade hervorzauberte. Stattdessen hat er letzten Montag einen grossen blauen Müllsack genommen und ist Brot aufsammeln gegangen. So schlimm sei es noch nie gewesen, sagt Wendorf. Was derzeit aus dem Fenster fliege, sei nicht normal, und das «aus Langeweile, aus Jux und Dollerei». Wendorf ging an den vergitterten Fenstern entlang, blieb stehen, bückte sich, sein Kopf wurde rot, der Bauch spannte – Wendorf liebt Berliner Leber und Schweinekrustenbraten. Der Müllsack war schnell voll. Dabei hatte er sich nur zwei von den sechs Häusern ausgesucht.

Die JVA Tegel ist das grösste Gefängnis Deutschlands, 30 000 Quadratmeter, gross wie vierzehn Fussballfelder, 1700 Insassen aus 63 Nationen. Überbelegt. Das führt täglich zu Schwierigkeiten: Wen legt man in die Zelle zu den drei älteren Russen? Sicher keinen jungen Russen. Jetzt liegt ein junger Deutscher drin.

Jede Woche kommen zwischen zwanzig und dreissig Abfalleimer, gefüllt mit Brot, zusammen. Das ärgert Wendorf seit Jahren. Dass die Insassen heute täglich sechs Scheiben, 350 Gramm Brot bekommen und keine 500 Gramm mehr wie vor fünf Jahren, war Wendorfs Idee. Gerne würde er die Ration nochmals senken. Aber das will die Anstaltsleitung nicht, trotz Klaus Wendorfs Beweismaterial, dem vollen Müllsack. Die Angelegenheit ist zu heikel.

Essen dient im Gefängnis als ein Ventil. Wenn die Frau nicht zu Besuch kommt, der Anwalt zu wenig Einsatz zeigt, das Wasser unter der Dusche kalt bleibt: immer wird das Essen kritisiert. Vor langer Zeit, am 10. Oktober 1968, kam es nach der Ausgabe von Heringssalat zu einem Tumult. Damals experimentierte man in der Küche allerdings auch noch mit Herzgulasch und Lungenhaschee. 1969 mussten 90 Beamte gegen die Essensproteste der Gefangenen vorgehen. Klaus Wendorf war da 22 Jahre alt und ganz neu dabei. Er hatte in den «Spreestuben», gleich gegenüber der Jugendarrestanstalt Neukölln, von dem Job erfahren, und da er frisch verlobt war und etwas Sicheres suchte, kam er nach Tegel. Wendorf war der erste Beamte mit Kochausbildung. In seinen 37 Jahren habe nur einer mal gedroht: «Wenn ich hier rauskomme, leg ich dich um.» So schlecht, wie es die hauseigene Gefängniszeitung «Lichtblick» darstelle, könne folglich sein Essen nicht sein, und zu Tumulten sei es auch nie mehr gekommen.

Und doch gibt es keine Ausgabe des «Lichtblicks», in der nicht über die Küche hergezogen wird: so ein Schweinefrass. Wendorf kennt die Namen der Schreiber, der notorischen Querulanten. Zu wenig, um satt zu werden, zu wenig zu trinken, nicht geniessbar, immer nur Kartoffeln, und die seien hart wie Bälle. Wendorf hat die Schreiber auch schon in die Grossküche eingeladen. Drei Stunden konnten sie mitarbeiten, in die Töpfe schauen, aufwischen. Anschliessend erschien ein neutraler Artikel, es folgten vier Wochen Ruhe, dann hiess es wieder: so ein Schweinefrass. «Da kann ich mir noch so Mühe geben. Ich habe keine Chance.»

Auf dem Tisch steht eine Topfblume, eine lila Alpenrose. Täuschend echt. Thomas Müller sitzt im Zimmer über der Grossküche, schiebt die Gabel in den Brei, vor ihm liegt ein Büchlein, er schreibt hinein: «Kartoffelbrei, Sauce, Gemüseröstling.» Das Zimmer ist hell gekachelt. Er zieht mit Kugelschreiber sein Kürzel ins Büchlein und schreibt dahinter «okay». Dem italienischen Gemüsetopf in der vorigen Woche hatte er ein «lecker» gegeben, und beim Fisch hat er sich zu einem «sehr lecker» hinreissen lassen. Vorkoster Müller ist kein verwöhnter Esser. «Wenn es durchgebraten, heiss und optisch ansprechend ist, genügt mir das.» Wendorfs heutiges Mittagessen bekam Abzug wegen der Optik. Zu sehr Ton in Ton.

Der Arbeitsberater für die Inhaftierten konnte sich seinen Nebenjob nicht aussuchen: «Wurde mir zugeteilt.» Dabei ist er sich seiner Bedeutung durchaus bewusst. Es soll später kein Häftling mit Krämpfen am Boden liegen und dem Gemüseröstling die Schuld daran geben können. Wenn es Müller überlebt, dann überleben es auch die 1700 Inhaftierten.

Um allen Eventualitäten vorzubeugen, wird ein Mittagessen zusätzlich drei Tage lang in einem der Kühlräume aufbewahrt, damit es jederzeit ans Gesundheitsamt weitergeleitet werden kann. Nötig war das bisher nie. Dabei drohte vor zwei Jahren die Gesundheitsbehörde, die Gefängnisküche zu schliessen, da die hygienischen Bedingungen nicht erfüllt wurden. Sauber- und Schmutzigbereich waren nicht getrennt, vorsintflutliche Kochkessel, die dreimal die Woche ausfielen, machten Klaus Wendorf erfinderisch.

Er erinnert sich an die Wildbratwurst, die er mit Brot austeilen musste, weil Kartoffeln und Gemüse nicht gekocht werden konnten. Sicherheitshalber verfasste er an die Häftlinge ein Erklärungsschreiben – als Wiedergutmachung gebe es in der kommenden Woche dafür mal was Höherwertiges –, «es blieb relativ ruhig».

Seit letztem Dezember hat Klaus Wendorf ein vorbildliches Reich. 3,5 Millionen Euro hat die neue Küche gekostet. Er bekam vier neue Kochkessel à 450 Liter Fassungsvermögen, eine Friteuse für 60 Liter Fritieröl und vier Kippbratpfannen, gross wie Reisekoffer. Er bekam neue Nebenräume, in denen sich die Häftlinge umziehen können, in denen der Entsafter steht und die Eimer daneben, weil sie zu gross gekauft wurden und nicht in den Entsafter passen. Er bekam neue Kühlräume und Lagerräume und musste dafür einen Drittel seiner Küche opfern. Geblieben sind ihm 200 Quadratmeter. Zu wenig Platz für die 15 Häftlinge, die letztes Jahr noch in der Küche sassen und Kartoffeln schälten. Ein eintöniger Job, aber immerhin ein Job – von 1700 Insassen sind in der JVA Tegel 400 ohne Beschäftigung. Nun erreichen täglich 750 Kilo geschälte Kartoffeln das Gefängnis, «vakuumverpackt, die schmecken prima», sagt Wendorf.

In seiner Küche beschäftigt er 25 Inhaftierte, die mit ihren blauweiss gestreiften Anstaltshemden und ihren Tätowierungen auf den Unterarmen und auf den Händen wie Seefahrer aussehen. Gearbeitet wird von morgens 6 Uhr bis mittags 13.15 Uhr. Dann geht es zurück in die Zellen. Der Lohn liegt bei 250 bis 450 Euro monatlich.

Pro Woche bekommt Wendorf 15 Bewerbungsschreiben. Mehr als die anderen Gefängnisbetriebe. «Sehr geehrter Herr Wendorf, hiermit bewerbe ich mich für eine Stelle in der Küche. Die Sicherheits- und Gesundheitschecks haben keine Bedenken.»

Bevor sich der Küchenchef für einen Mitarbeiter entscheidet, schaut er sich den Mann an: ob er sauber ist, wie er wohnt, ob er in seiner Zelle Ordnung hält. Am liebsten sind ihm die mit langen Haftstrafen. Die wollen ihre Zeit möglichst ohne Ärger und in einem geregelten Trott hinter sich bringen. Wer weshalb einsitzt, will Wendorf eigentlich nicht wissen. Doch manchmal packt auch ihn die Neugierde. Als er im Büro eines Kollegen wartete, lagen auf dem Tisch Akten, beschriftet mit Namen von Männern aus seiner Küche. Er hat die Aktendeckel angehoben und «fast nen Schlag» gekriegt, sagt er, was da für Taten drinstanden. Es sei besser, er blende diese Geschichten vom Quälen, Vergewaltigen, Morden aus.

Wendorfs Büro liegt über der Küche. Hier hält er sich die meiste Zeit auf. Eigentlich ist er gar kein richtiger Koch mehr. Er organisiert. Pro Tag bestellt er 450 Kilo Tiefkühlgemüse, 200 Kilo Nudeln, und wenn er Schmorbraten macht, 280 Kilo Fleisch. Im Keller hortet er Berge von Saucenpulver, Streichwurst, Käse und Streuwürze – der Eimer zu 24 Kilo à tausend Euro.

Er ist Manager. Er nimmt um halb sechs in der Früh die Lieferungen in Empfang, er tüftelt mit seinem Kollegen den Menuplan für die Woche aus, er kennt die günstigsten Bezugsquellen, er kauft für Weihnachten Flugentenkeulen, weil Gänsekeule zu teuer ist, das Lamm für Ostern zum besten Preis bereits im Januar, und wenn die Grillsaison naht, verabschiedet er sich vom Schweinenacken.

Wendorf koordiniert. Die ärztlich verschriebene Sonderkost zum Beispiel. Er hat das alles im Computer. Neben den vier Standardessen Normalkost, Muslimkost, vegetarische Kost und Schonkost gibt es noch leichte Vollkost, Flüssigkost, Diabetikerkost, natriumarme Kost. Hinzu kommt für den einen täglich eine Suppe, für einen anderen ein Becher Quark oder eine Extraportion Obst. Das heisst Kostvermehrung. «Sicher soll jeder das kriegen, was er gerne isst, aber es wird schon übertrieben.»

Ein Drittel der Inhaftierten bekommen Muslimkost. «Als ich hier anfing, hiess das noch Judenkost, da haben wir noch keine Muslime hier gehabt.» Kürzlich haben sich die Asiaten beschwert, sie wollten mittags Reis statt Kartoffeln, da sie das gewohnt seien. Das sah Wendorf ein: «Soll ja keiner hungern.» Bald mussten über fünfhundert Portionen Reis täglich zubereitet werden, das ging ihm dann doch zu weit: «All diese Extrawünsche.» 370 Mann bekommen Weissbrot statt Graubrot, 15 Mann Tofu statt Eier, 15 wollen keine Wurst, 44 vertragen keinen Käse.

Wendorf erinnert sich nicht daran, jemals etwas falsch in die Häuser geliefert zu haben, und doch liegt da dieser Brief: «Schon zum dritten Mal», beklagt sich ein Diabetiker, habe er kein Fleisch bekommen, obwohl er kein Fleischloser sei. «Ich weiss zwar, dass ich im Knast bin, aber lasst euch besser wieder das Essen aus Moabit bringen.» Das Untersuchungsgefängnis Moabit lieferte das Essen für die Diabetiker und Vegetarier während des Küchenumbaus. «Besser ist das nicht, im Gegenteil», sagt Wendorf und zeigt auf den einzigen Zettel, den er sich an die Wand gepinnt hat: «Sehr geehrter Herr Chefkoch. Nachdem man nicht ständig meckern soll, spreche ich der Küche das höchste Lob aus für die Zubereitung der passierten Kost. Das Essen der Anstaltsküche ist wirklich sehr lecker und abwechslungsreich.»

Klaus Wendorf ist der Dienstälteste in der JVA Tegel. Er hat schon seinen Sohn für die JVA angeworben, kürzlich wollte er auch seinen Enkel mit den Arbeitsmöglichkeiten in dieser Stadt in der Stadt bekannt machen. Doch seit der Wende hat er neue Kollegen von der ehemaligen Volksarmee. Die sind streng. «Etwas eigenartig, nicht so zugänglich wie die Kollegen von früher.» Ohne Voranmeldung geht gar nichts mehr. Ne, sagten die, stell du zuerst einen Antrag. Da liess er es bleiben, seinem Enkel die Gefängniskirche mit den zwei massigen Türmen zu zeigen, die Schule, die Bäckerei, die Hausflure aus vergangenen Jahrhunderten, ihn dabeizuhaben, wenn das Mittagessen ausgeteilt wird.

Wenn Klaus Wendorf nach seiner Arbeit rauskommt, mit seiner Frau in Berlin Tegel in den Supermarkt geht, kommt es nicht selten vor, dass ihm ehemalige Gefangene begegnen. «Die freuen sich, mich wiederzusehen», sagt Wendorf. Essen verbindet. 


von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Lunch", 2006.