Ein bisschen Unendlichkeit (NZZ Folio)

Kaum ist der Schmerz einer gescheiterten Liebe vergangen, erwacht erneut die Sehnsucht nach ihr. Den ewigen Kreislauf von Schmerz und Sehnsucht, wir tun ihn uns an, «weil nur die Liebe schafft, dass wir uns unendlich fühlen», sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Diese Unendlichkeit dauert oft nur Sekunden, sagt er – niemals aber könne sie ein ganzes Leben lang anhalten, wer sich das erhoffe, scheitere.

Johann erhofft sich keine ununterbrochene Glückseligkeit. Aber vermutlich wolle er noch immer zu viel, sagt er. Eine Beziehung, in der sich Lieben und Geliebtwerden die Waage halten. Er hält inne, dann fragt er: Ist das wirklich zu viel?
Johann ist 31. Vor vier Jahren zog er aus seiner Studentenbude in Göttingen nach Zürich in den Kreis 5 in eine Wohngemeinschaft. Die Wohnung liegt in einem Neubau neben trendigen Bars und Geschäften unter Viaduktbogen. Das Wohnzimmer ist gross, fast ein Saal. Mit Maja und Johannes teilt er sich eine braune Couch, einen flachen Fernseher, die offene Küche, einen Balkon mit Hängematte in dezentem Beige und ein Bad. Aus seinem Zimmer sieht er in einen Innenhof mit schlanken Bäumchen. Meist aber sind die luftigen Vorhänge vor den grossen Fensterscheiben zugezogen.

Um sieben Uhr morgens klingelt Johanns Wecker. Duschen, anziehen, rauf aufs Velo, quer durch die Stadt, den Trams ausweichen, eine quälende Steigung hinauf zum Kreuzplatz ins Büro der ETH. Hier schreibt er an seiner Dissertation in Organisationspsychologie, Thema: Sicherheitsvorschriften bei der Bahn. Die vorbereitenden Forschungen dazu verschlangen Jahre. Drei Aufsätze sollen es werden. Seit einem Jahr ist sein erster Aufsatz fertig – genau so lange ist sein letzter Liebeskummer her.

Daniela meldete sich für ein Zimmer in der Wohngemeinschaft. Man war sich auf Anhieb sympathisch. Zwei Monate hoffte er auf ihre Liebe, am Ende siegte Danielas Exfreund. Auf seinem Bett schrieb er ihr Briefe – abgeschickt hat er sie nie.
Fünf Jahre ist Johann schon Single. Fünf Jahre durchstreift er mit allzeit bereitem Herzen die Stadt und das Internet. Lernt er eine kennen, ist er zurückhaltend. Seinen Entscheidungen lässt er Zeit zum Reifen. Oft bis zur Überreife. Anders als ein Bär, der die Früchte noch sauer und grün verspeist, wartet Johann ab, bis sie reif und süss sind – in der ständigen Gefahr, dass sie ein anderer vor ihm schnappt.

Es ist ein Dilemma, dessen ist sich Johann bewusst. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er sich in den fünf Jahren an seine Freiheiten gewöhnt hat. Soll er die für eine unreife Stachelbeere aufs Spiel setzen?
Weihnachten 2010 verbringt Johann in Schweden mit Eltern und Geschwistern. Er sitzt im Zug und schaut aus dem Fenster ins tief verschneite Land. Johann ist eine angenehme Erscheinung, schlank, dunkle Haare, Augen, die sich dem Himmel anpassen, mal etwas blauer, heute etwas grauer. Seine Hände mag er, sagt er, und auch seine Beine kämen bei Frauen gut an. Es wird eine geben, die seine Zahnlücke oben links lieben wird. Doch bis dahin werden noch Monate vergehen.

Das Ferienhaus in Småland kauften seine Eltern vor 15 Jahren. Seine Mutter ist 67, Psychologin, sein Vater 70, pensionierter Pädagoge. Nachdem sie zwei Kinder adoptiert hatten, kamen die eigenen – zuerst Johann, dann Michael. Im weiten Garten werkeln die Eltern, die Birken sind in Kälte erstarrt. Johann mag die Ruhe.

In Småland wird ihn sein Vater fragen, weshalb er keine Freundin habe. Eine bisher nie gestellte Frage. Johann wird einen Moment irritiert sein und antworten: «Ich bin wohl zu wählerisch.» Sein Vater wird nicken, ihm keine Ratschläge erteilen, ihm einfach nur ermutigend auf die Schulter klopfen. Johann ist das recht.

Null Grad in Zürich. Am Nachmittag des 31. Dezember legt Johann Jeans, ein dunkles Hemd und den dazu passenden Blazer aufs Bett. Ja, so kann er ihr gegenübertreten. In seinem Kopf geht er Stunde um Stunde durch, sein Hirn erhitzt sich; er gibt sich geschlagen. Warum den Abend nicht einfach auf sich zukommen lassen, anstatt ihn jetzt schon durchzuplanen? Johann lernte Dina auf der Weihnachtsfeier an seinem Institut kennen. Sie unterhielten sich und stellten fest, dass sie Silvester auf derselben Feier verbringen würden. Sie war witzig, sah gut aus, dissertierte wie er. Johann ist zuversichtlich.

Minus drei Grad. Johann macht sich auf den Weg. Als Gastgeschenk eine Flasche Wein in die Umhängetasche gesteckt. Die Gäste sitzen an einem langen Tisch und schieben warmen Käse auf die Gabeln. Dina und Johann tauschen ein paar Sätze: «Was macht die Diss?» – «Ganz gut, und deine?» Kein Fünkchen, das überspringt. Um Mitternacht gehen die Gäste auf die Dachterrasse, schauen in den erleuchteten Himmel Zürichs, johlen bei jeder Rakete und prosten dem neuen Jahr zu – wer eine Liebe hat, küsst sie. Der Himmel ist klar. Nur die zu hoch geschossenen Raketen gehen im Nebel unter. Johann hatte sich den Abend anders vorgestellt. Er hatte sich Dina anders vorgestellt.

Noch nie war es so einfach, einen Partner zu finden, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Musste man vor zwanzig Jahren noch Discos abklappern und die mögliche Partnerin in stundenlangen Gesprächen nach Vorlieben und Gemeinsamkeiten aushorchen, genügen heute einige Klicks im Internet, eine Suchanfrage nach dem Partner mit dem erwünschten Profil. Man wisse, was man bekomme, habe mit keinen Überraschungen zu rechnen, die einen auf «Start» zurückwürfen – wenn sie etwa plötzlich Kinder wolle, er aber nicht.

Was Experten als kurzen Weg bezeichnen, ist Johanns persönlicher Gang nach Canossa. Er weiss das, er war bei Parship und Elite Partner. Noch bevor man sich begegnet, kehre man sein Innerstes nach aussen, sagt er. Irgendwie erniedrigend. Ohne die «natürliche Phase des Kennenlernens» fühlt sich Johann überfahren.

Und doch versucht er es erneut. Im Online-Stadtmagazin Ronorp schaltet er eine Anzeige. Unter «Mann sucht Frau» schreibt er: «Alle guten Männer sind vergeben? Kann ja nicht sein, sonst wäre ich nicht Single.» Er sass lange über diesem Satz, der witzig sein sollte, nicht abgedroschen oder plump. Der ein bisschen sein sollte wie er – charmant.
Um sieben Uhr klingelt der Wecker. Duschen, anziehen, rauf aufs Velo, quer durch die Stadt, den Trams ausweichen, eine quälende Steigung hinauf zum Kreuzplatz ins Büro der ETH. Die Einsamkeit des Schreibens. Abends trinkt er mit Freunden ein Bier, geht ins Kino oder liest. Ab und zu ein Telefonat mit seinen Eltern, bei denen er mit 19 Jahren auszog, um Psychologie zu studieren. Und immer kontrolliert er die Mails.

Fünfzehn Frauen haben sich auf seine Anzeige gemeldet. Für Johann nicht nur Grund zur Freude. Fünfzehn Blind Dates bedeuten fünfzehn Treffen, in denen das Unverbindliche gleich verbindlich würde, in denen «sie weiss, was ich will, und ich weiss, dass sie einen sucht».

Johann möchte nicht fünfzehn Frauen «abarbeiten», er will sich Zeit nehmen und entscheidet sich für fünf Bewerberinnen. Johann sitzt im Café Elena gegenüber. Er schaut in ihre Augen, er achtet auf ihr Lächeln, auf ihre Stimme, die er eher tief mag, nur nicht gepresst. Sie unterhalten sich freundlich und verabschieden sich «kurz und schmerzlos». So geht es ihm mit Elena, mit Suza, mit Nathalie.

«Anders als in früheren Zeiten können moderne Menschen problemlos alleine leben», sagt Wilhelm Schmid. Für dieses Modell spricht, dass es viel Ärger erspart. Nicht erst in der Beziehung, auch auf der Suche danach.

Johann meldet sich für einen Singles-Walk an. Fünfmal jährlich spaziert Tanja Gentina zwei Stunden mit Suchenden durch Zürich. Unter Bäumen, an Brunnen oder auf lauschigen Plätzen stellt sich Tanja Gentina in die Mitte des Grüppchens, liest ein Gedicht zur Liebe und bittet die Teilnehmer – einen nach dem anderen –, sich vorzustellen.

Johann hat für den heutigen Tag die Farben des Grosswildjägers gewählt: grünes Hemd, khakifarbene Hosen mit geräumigen Taschen, in der einen steckt ein Sonnenhut. Sieben Frauen und sieben Männer versammeln sich beim Landesmuseum, wo Limmat und Sihl ineinanderfliessen. Eine Teilnehmerin schaut in die Gesichter der Anwesenden, dreht sich um und geht wieder. Wer seine Zeit mit Partnersuche verbringt, muss sie bewusst einsetzen, zwei Stunden am falschen Ort sind zwei Stunden weniger am vermeintlich richtigen. Johann sind die Frauen «zu alt», das sah er schon, als er ankam. Aber er bleibt im Halbkreis stehen, «wo ich nun schon mal hier bin».

Als erster stellt sich Peter vor. Der 42jährige ist nach einer Woche Sportferien auf Sardinien gesund gebräunt. Ein Tausendsassa mit einnehmendem Lächeln, das er Livia etwas länger als den anderen Anwesenden schenkt. Ausgerechnet Livia, ist sie doch die einzige Frau an diesem Nachmittag, die Johann trotz ihren 37 Jahren kennenlernen möchte. Wüsste er, wie, würde er sie ansprechen – bevor Peter das tut, wenn möglich.

Livia trägt ein Sommerkleid, rote Blumen auf weissem Grund, den Hut eines Dandys keck auf dem Kopf. Tanja Gentina liest «Klärchens Lied» von Goethe: «Glücklich allein ist die Seele, die liebt…», dann führt sie die Gruppe auf einem hölzernen Steg der Sihl entlang.

Max ist mit dabei. Zehn Jahre war er verheiratet, jetzt habe seine «Noch-Ehefrau» einen Neuen und sauge ihn finanziell aus. Michael war 17 Jahre katholischer Priester, er lebte und arbeitete im Vatikan. Der Papst grüsste ihn mit Namen, wenn er an ihm vorbeiging. Klaus, Vater dreier Kinder, trennte sich nach 17 Jahren von seiner Frau, weil es nicht mehr passte. Angela ist seit vier Jahren Single – wie die meisten hier. Sie teilte den Mann mit einer anderen, bis sie genug davon hatte, die Stunden zu zählen, die er mit der Konkurrentin verbrachte. Die Liebe entzauberte sich. Nach dem schlimmsten aller Gefühle, der Verlorenheit, fand sie den Weg zurück zu sich selbst und schliesslich hierher zum Spaziergang.

Gemeinsam erklimmt die Gruppe die Steinstufen des alten botanischen Gartens. Es ist warm, in der Luft hängt der Duft blühender Sträucher. Johann ist der Jüngste in der Runde, vor Peter, der ihm, zugegeben, Sorgen bereite. Thymian, Oregano und neben dem Kräutergarten Johann, der sich in wenigen Sätzen charakterisieren soll, der attraktiv und witzig rüberkommen soll, der Livia beeindrucken soll, wählt als Einstieg seine Doktorarbeit. Er zweifelt an der Glaubwürdigkeit der Hobbykataloge, die seine Vorredner runterleierten: Zehnkämpfer, Tierschützer, Weltenbummler und nebenbei noch Führungskraft.

Nach seinem Plädoyer geht er den restlichen Weg allein. Im Restaurant bestellt er eine grosse Apfelschorle. Am anderen Tischende sitzt ein gutgelaunter Peter vor seinem Bier und prostet Livia zu. Peter sei ein geübter Spaziergänger, hat Johann herausgefunden. Vier Mal sei er bereits beim Singles-Walk dabei gewesen. Vorsprung durch Erfahrung. Nervlich sei er eindeutig besser gerüstet.

Tanja Gentina leitet seit zwei Jahren die Spaziergänge. In dieser Zeit weiss sie einzig von einem Paar, das sich gefunden hat. Dass es hier auf Anhieb klappe, sei unwahrscheinlich, sagt sie. Aber hier lasse sich die Kunde streuen, auf dem Markt zu sein, sagt sie. Im Grunde sei es simpel: «Je mehr es wissen, desto grösser die Chancen, jemanden kennenzulernen. Am Ende hilft nur Mundpropaganda.»

Der Abend ist warm, Livia und Peter wollen noch weiter an den See. Johann – warum eigentlich nicht – schliesst sich an. Eine Stunde später hat er nicht ins Gespräch gefunden. Aus dem «Warum eigentlich nicht?» wurde ein «Warum tue ich mir das eigentlich an?».

Weil Menschen energiebedürftige Wesen seien, sagt Wilhelm Schmid. «Und sind Begegnungen manchmal auch schmerzlich – sie sind der einzige Weg, einen Menschen zu finden, der unglaubliche Energien im eigenen Selbst frei werden lässt.»

Es ist der 1. Juni, 7 Uhr 30. Das Telefon klingelt. Maja bringt es Johann ans Bett. Seine Eltern singen «Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen». Heute wird Johann 32. Im Regal stehen die Eltern gerahmt und lächeln ihn an. Ein harmonisches Paar.

Abends grilliert Johann Steaks, Würste und Hühnerschenkel auf dem Balkon. Den Kartoffelsalat machte er unter Anleitung seiner Mitbewohnerin Maja mit Mayonnaise und Gurkenwasser, lecker, aber nicht leicht. Im Wohnzimmer stellen sie zwei Tische zusammen. Als er seine Freunde kennenlernte, waren alle noch Singles. Jetzt halten seine Freunde ihre Partnerinnen im Arm oder streichen sanft über wachsende Babybäuche.

Wäre Johann eine Frau, spräche man von Torschluss­panik, sagt ein Freund und prostet ihm zu. «Lass es auf dich zukommen, mach deine Dissertation, dann hast du den Kopf frei – was willst du dir jetzt noch eine Frau in dein ­Leben quetschen?» rät ein anderer.

Die Sprüche kennt er. Er hasst sie alle, doch der schlimmste sei der: Abwarten, nur kein Stress, dann werde sich was ergeben. Wie aber solle man passiv suchen? Entspannt und doch aktiv? Wenn er eine Frage an Wilhelm Schmid hätte, dann würde er ihm diese stellen.

«Raus, ran, auf das Zufallsglück hoffen. Allerdings mehr als hoffen geht nicht», sagt Schmid. «Wir können diesen Zufall nicht herbeiführen, aber immerhin wahrscheinlicher machen.» Das Leben hat einen zeitlichen Rahmen, und der setzt Suchende unter Druck. Zufälle sind der unkalkulierbare Faktor in diesem Spiel, und die Kunst besteht darin, sie für die Liebe zu nutzen.

«Ich habe keine Lust mehr», sagt Johann Mitte Juli. Johann trägt jetzt einen Bart, ums Handgelenk ein Lederband, die Hemdsärmel hochgekrempelt. «Ich habe keine Lust mehr, ich habe sie gefunden», sagt er und spricht in dieser einen Stunde mehr als sonst in zwei. Lara ist ein unerschöpfliches Thema. Ein wunderschönes Thema. «Lara ist wunderschön», sagt Johann.

Er erzählt von der Reise nach Nordhessen, die er antrat ohne Hoffnung. Er erzählt von der «schönen» Burg, auf der die «tolle» Hochzeit stattfand. Schon kurz nach der Ankunft sei sie ihm aufgefallen. Das schwarze Kleid, die kurzen, dunklen Haare. Ab und zu kreuzten sich ihre Blicke. Als führte ihn ein Magnet, suchte er ihre Nähe. Ein Freund machte ihm Mut: Sprich sie an. Johann tat es.

Er zeigt auf seinem iPhone die Fotos: Hier steht er und singt mit Kollegen ein Hochzeitslied für das Brautpaar. Lässig, eine Hand am Mikrophon, in der anderen ein Bier, im Festsaal der Burg. Da hinten steht Lara. Man sieht nur einen kleinen Teil des dunklen Haares. Lara neben Freunden, Lara ins Gespräch vertieft.

Er erzählt, dass sie sich an die Bar setzten und dort bis morgens um drei Uhr blieben. Er wartete auf ein Zeichen, eine kleine Berührung, ein zufälliges Streifen der Arme, der Beine. Sie redeten, und er bekam kurze Einblicke in ihr Wesen. Momente, wie man sie bei einer Bergtour hat, wenn die Bäume den Blick auf das Tal freigeben. Die Sicht gefiel ihm. Als er sie fragte, ob sie mit ihm Essen gehen würde, und Lara zusagte, war es um ihn geschehen. Dass sie in Hamburg lebte und er tausend Kilometer weiter südlich, hinderte ihn nicht daran: Ihm wurde schwindlig vor Glück. Als wäre er auf dem Gipfel angelangt und blickte direkt in die gleissende Sonne. Er war unfähig, die einfachsten Schritte zu tun – sollte er sie küssen, berühren? Um vier Uhr umarmten sie sich und wünschten sich eine gute Nacht.

Im August kommt Lara nach Zürich. Johann erwartet sie auf dem Perron. Sie spazieren zu ihm nach Hause, den Bars und Geschäften entlang durch den Regen. In seinem Wohnzimmer macht er ihr die grosse Ledercouch für die Nacht bereit.
Am nächsten Tag fahren sie mit dem Zug nach Luzern. Tretbootfahren auf dem Vierwaldstättersee, historische Holztafeln studieren auf der Kapellbrücke, das ganze Programm. Abends ein Open-Air-Jazzkonzert. Am Seeufer legt er den Arm um sie. «Ich finde dich toll», sagt er. Lara nimmt seine Hand und hält sie fest. Zu Hause in Zürich legt Johann Jamie Cullum auf. Lara schläft in dieser Nacht nicht auf der Couch.

Um sieben Uhr klingelt der Wecker. Duschen, anziehen, rauf aufs Velo, quer durch die Stadt, eine quälende Steigung hinauf zum Kreuzplatz ins Büro der ETH. Sein Aufsatz schreibt sich locker. Die Seiten füllt er mit Leichtigkeit. Zwei Drittel sind geschafft. Bald ist Wochenende, das Zugbillett gekauft.

Anfang September ist Johanns Glück einer Nervosität gewichen. Er sitzt in seinem Büro, lächelt tapfer und hält daran fest, dass alles gut werden könnte, aber: Die Turbulenzen der letzten Wochen hätten ihm zugesetzt, sagt er. «Das ist alles nicht so einfach.»

Was ist nicht einfach?

«Die Sache locker anzugehen. Lara und ich sollten uns erst mal kennenlernen.»
Macht ihr das nicht seit Wochen?


«Ich mag sie, sie ist attraktiv, ich bin gerne mit ihr zusammen. Aber diese Beziehung okkupiert mein Leben.»

Tut das nicht jede Beziehung?

«Es gibt Phasen, da bin ich mir unsicher, ob sie mich wirklich mag.»

Wie kommst du darauf?

«Sie sagt, sie sei sich unsicher.»


Hmm.

«Es ist schwierig.»

Hmm.

«Bei meiner ersten Beziehung war der Anfang allerdings auch holprig, im Grunde waren wir erst nach einem halben Jahr zusammen.»

Warum wagt ihr es nicht einfach?

«Es ist lange her, dass wir beide Beziehungen hatten.»

Warum geniesst du nicht einfach, was ihr jetzt habt?

«Das sagen meine Freunde auch. Ich kann diese Ratschläge nicht mehr hören.»

Und nun?

«Es gibt Phasen, da geht’s, und dann gibt es Phasen, wo ich den Stress der Unsicherheit nicht abschütteln kann. Es gab Tage, da war ich mir sicher, dass ich das hinbekomme mit der Fernbeziehung. Heute ist nicht so ein Tag.»

Das Problem ist die Distanz?

«In Fernbeziehungen steckt eine Fixiertheit. Drei Tage ist man auf Gedeih und Verderb zusammen, und dann sieht man sich wieder tagelang nicht. Das Kennenlernen geschieht nicht fliessend, sondern geplant. Das hat nichts Natürliches.»
Fährst du trotzdem wieder nach Hamburg?

«Nächstes Wochenende.»

Lara wohnt alleine. «Charmant chaotisch», beschreibt Johann ihre Zweizimmerwohnung in Hamburg Altona. Sie frühstücken auf dem kleinen Balkon, spazieren an der Elbe entlang, essen selbstgeschmierte Käsebrötchen an der Hafenmole. Sie sprechen über gemeinsame Freunde, das Leben in einer fremden Stadt – aber nur selten über ihre Gefühle. Sie mag ihn, das hat sie ihm einmal gesagt, sie mag seine Zahnlücke, seine Hände, seine Läuferbeine.
Und kaum hatte sie gesagt, dass sie etwas für ihn empfinden würde, schürte sie wieder Zweifel: Sie sei sich unsicher. Unsicher, ihre Freiheit aufgeben zu wollen. Unsicher, jemanden so nahe in ihr Leben zu lassen. Johann möchte seinen Rucksack packen und Hamburg verlassen. Sofort. Doch Johann bleibt. Er hält an der Hoffnung fest – auch wenn er längst selbst zu zweifeln begonnen hat. Er möchte nicht schon wieder von vorn beginnen – nach dem Schmerz wieder zur Sehnsucht, um zur Liebe zu gelangen. Erhofft er sich wirklich zu viel? Liegt es nicht eher an der Liebe? Es muss an der Liebe liegen. Warum nur ist sie so kompliziert?

«Wäre es einfacher, würde uns bald die Langeweile einholen», sagt der Philosoph lachend. Wilhelm Schmid ist seit 28 Jahren verheiratet, seine Frau sitzt ihm gegenüber und zwinkert ihm zu. «Kompliziert wird es nur dadurch, dass da ein anderer ins Spiel kommt, der nicht immer dasselbe will wie ich, oft mit ganz anderen Sichtweisen, Fühlweisen, Denkweisen», sagt Schmid. Aber genau das sei ja das Reizvolle daran.

Zurück in Zürich. Um sieben Uhr klingelt der Wecker. Johann fährt in sein Büro an der ETH. Tagsüber schreibt er an seiner Arbeit, abends grübelt er an der Beziehung. Liebe fühlt sich anders an, das weiss er. Er hat sie schon erlebt.

Er fährt nach Hamburg. Er kauft Brötchen fürs Frühstück. Sie essen auf dem Balkon, gehen spazieren und abends in ein kleines Kino. Sie sprechen wenig, als bangten sie, den Rest Sauerstoff zu verbrauchen, der sie zusammenhält. Kurz vor Mitternacht kehren sie zurück in Laras Wohnung, setzen sich auf ihr weiss bezogenes Bett. Sie sagt: «Wir sollten es bleiben lassen.» Am nächsten Morgen bringt Lara Johann zur Tür. Im Flur umarmen sie sich. «Es wäre schön, mal wieder etwas von dir zu hören», sagt sie. «Ja», sagt ­Johann.


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Ich liebe dich", 2011.