DIE UNIFORM diente Arnold Odermatt immer auch als Freikarte für die exklusiven Plätze: Brauchte der Polizeifotograf freie Sicht auf die Autobahn, sperrte er sie, um eine Leiter mitten auf die Straße zu stellen. Wenn er fand, er könne einen Unfall besser vom Wohnhaus gegenüber aus sehen, läutete er, bat um Zutritt ins Schlafzimmer, zog die Schuhe aus und stieg aufs Ehebett, um aus dem Fenster zu knipsen, erzählt sein Sohn Urs Odermatt. Für ein gutes Bild war ihm kein Kran zu hoch, keine Bitte zu dreist: Wünschte Arnold Odermatt, genannt Noldi, den Unfallwagen einen Meter weiter links, damit die Schaulustigen besser zur Geltung kommen würden, packten die Kollegen an. Sein Sohn musste unzählige Male mit dem Fahrrad durch Wind und Regen fahren, in der Hand einen offenen Schirm, damit der Vater ein einziges Mal abdrücken und den richtigenMoment auf Film bannen konnte. Das Bild diente später als Anschauungsmaterial für schlechtes Benehmen im Straßenverkehr: Viele von Odermatts Fotografien entstanden für eine Diavortragsreihe, die Kindern die Gefahren des Verkehrsund der Jugend die Vorzüge des Polizeialltags zeigen sollte. Polizist zu sein, war in den 1960er Jahren alles andere als angesagt. Um das Image aufzumöbeln, ließ Arnold Odermatt Kollegen an technischem Gerät hantieren oder mit der Waffe posieren. Er zeigte Uniformierte, die schnittige Motorboote und rassige Dienstwagen lenken. Oder fotografierte sie gar oben ohne, mit vom Alltag gestärkten Muskeln. Bis er auf den Auslöser drückte, konnten Stunden vergehen, „darum ziehen alle immer eine Fresse“, sagt Urs Odermatt. Die Fresse als Markenzeichen. Sein Vater schoss mit seiner Rolleiflex immer nur ein einziges Bild. Alles andere war zu teuer. Zehntausende Fotos entstanden so. Eines zeigt ein Reh auf dem Schoß des missvergnügten Polizeichefs. Er und das verletzte Tier mussten auf dem Rücksitz des Dienstwagens ausharren, bis Odermatt den Moment zum Auslösen gekommen sah. Anfang der 1980er Jahre hatte Urs Odermatt die Polizeifotografien des Vaters als Kunst entdeckt und sie zu den drei Werkgruppen „Karambolage“, „Im Dienst“ und „Feierabend“ zusammengestellt. Arnold Odermatt selbst musste erst über 90 Jahre alt werden, damit er sich bei seinem Sohn bedankte. Der bildet sich auf den Dank nichts ein. Er diene dem Vater nur, um sich am Gespräch festzuklammern, sagt der Regisseur und Autor. 94 Jahre ist sein Vater alt, da macht der Geist schon mal kurze Pausen. Er sei müde, besonders heute, und deshalb treffe ich Urs Odermatt und nicht seinen Vater im Gasthaus Linde in Stans, einem Ort im Herzen der Innerschweiz. In der Nähe befindet sich die Wohnung, in der er mit seinen Eltern und seiner Schwester lebte. Seine Mutter starb vor einigen Jahren. Sein Vater wohnt seither allein dort. „Klein und miefig“, so beschreibt der Sohn die Wohnung. „Käse, fast täglich gab es Käse“, sagt er. Im Gasthaus Linde wird morgens schon Weißwein ausgeschenkt. Urs Odermatt bestellt Kaffee und einen Nussstängel.vOR 18 JAHREN sprach ich im selben Lokal an einem runden Holztisch mit seinem Vater. Arnold Odermatt war damals 76 Jahre alt und auf dem Weg, Weltruhm zu erlangen. Selbst im Pullover schien der schlanke, freundliche Herr noch eine Uniform zu tragen. Er erzählte mir aus seinem Leben als eines von elf Kindern, aufgewachsen auf einem Bauernhof bei warmherzigen Eltern. Mit zehn Jahren gewann er seine erste Kamera in einem Wettbewerb, den Film dazu verdiente er sich mit Zaubertricks auf dem heimischen Dachboden – Eintritt fünf Rappen. Als er 1948 in den Nidwaldner Polizeidienst eintrat, sollte er die Unfallorte mit Stift auf Papier festhalten, doch dazu fehlte ihm das Talent. Er warb bei seinen Vorgesetzten für die Vorzüge der Fotografie, die künftig Polizeiprotokolle ergänzen könne. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus – er durfte sich auf der Station in Stans in einem Abstellraum eine Dunkelkammer einrichten. Auf eigene Kosten. Immerhin kam die Dienststelle für den Wasseranschluss auf. Er wurde, so sagte er selbst, der erste Polizeifotograf der Schweiz.
Während sich Arnold Odermatt für den Polizeidienst und seine Fotos ins Zeug legte, beschloss sein Sohn Urs mit 15 Jahren, von daheim auszuziehen, um bei seiner kaum älteren Freundin zu leben. Konkubinat war in Nidwalden ein Offizialdelikt, erinnert er sich. Um nicht gegen den eigenen Sohn dienstlich vorgehen zu müssen, empfahl Arnold Odermatt ihm einen Umzug ins benachbarte Obwalden und „sich still zu verhalten“. In Obwalden galt die wilde Ehe nur als Antragsdelikt: Sollte sich kein Nachbar daran stören und Anzeige erstatten, könne er treiben, was er wolle, so Urs Odermatt. Der Pragmatismus des Vaters habe ihm das Leben erleichtert, sagt er, „dafür schätze ich ihn“. Vor dem Eintritt in den Militärdienst Ende der 1970er Jahre setzte sich Urs Odermatt nach Deutschland ab. Nun musste der Vater ermitteln. Der Kontakt fror ein. Erst viele Jahre später bekam er einen Brief, in dem Arnold Odermatt ihn um einen Besuch in der Schweiz bat. Der Wunsch war nicht väterlich, sondern geschäftlich. Arnold Odermatt hatte mitbekommen, dass sein Sohn in den Medien arbeitete, unter anderem als Praktikant beim ZDF, und erhoffte sich Rat, wie er seine Bilder außerhalb Nidwaldens zeigen könnte. Also kam der in der Schweiz gesuchte Sohn über die grüne Grenze für 24 Stunden nach Stans, um sich anzuhören, dass sein Vater Landschaftsfotografien ausstellen wolle. „Versuchen wir es mit den Karambolagen“, schlug Urs Odermatt vor. „Einzigartig“ nannte er sie. „Blöder Chabis“, Unsinn, entgegnete sein Vater. Doch schließlich vertraute er ihm. Vater und Sohn verbindet nicht gerade überschwängliche Herzlichkeit, sondern eher die Komplizenschaft zweier Künstler.Der Weltruhm kam dann mit Harald Szeemann. Der bekannte Kurator und Museumsleiter hatte Odermatts Fotografien in einer Ausstellung im Frankfurter Polizeipräsidium entdeckt und wollte eine Auswahl bei der Biennale in Venedig2001 zeigen. Urs Odermatt traf Szeemann im Zürcher Flughafen Kloten am Gate und reichte ihm die Mappe des Vaters mit 300 Bildern zur Ansicht. Keine zehn Minuten hatte Szeemann Zeit, bis sein Flug aufgerufen wurde. Nie habe er einen Menschen schneller Entscheidungen treffen und gelbe Zettel auf 32 Werke kleben sehen, erzählt Urs Odermatt.
Als ich Harald Szeemann im selben Jahr traf und fragte, was Odermatts Bilder für ihn so besonders machen, antwortete er: „Nur ein Polizist aus der wohlhabenden Schweiz kann das Unglück ästhetisieren und es sich leisten, auf Blutzoll zu verzichten.“ Arnold Odermatts Bilder zeigen keine rohe Gewalt. Es gibt kein Blut und keine Tränen, obwohl es zu der Zeit, als sie entstanden, weder Kindersitz, Anschnallpflicht noch Airbags gab. Wer seinen Wagen in einen Brückenpfeiler rammte, flog durch die Scheibe in den sicheren Tod. Sein Vater habe bei der Arbeit so viele Tote „von der Straße gekratzt“, dass er kein Blut mehr zeigen wollte, erklärt Urs Odermatt die Reinheit der Bilder. Es fehlte damals nicht an Dramatik. Doch ist das Unheil in Odermatts Fotos eher eine Ahnung, verbirgt sich in der Sachlichkeit von zerbeultem Blech.Auch war die Schweiz nie so heil, wie es die Fotos vorgeben.Sie sind Abbilder eines Landes, in dem Frauen bis 1971 kein Wahlrecht hatten, Reformierte vielerorts als Ausländer galten und italienische Arbeitsmigranten bei der Einreise ihre Pässe abgeben mussten.
Bei Odermatt sieht das so aus: Ein Bild von 1965 zeigt eine Amtsstube in Stansstad mit grünrotbeigen Vorhängen in grafischen Mustern. Dort stempelt der Gefreite Paul Christen artig Pässe. Die gehören italienischen Gastarbeitern. Zurück bekamen sie sie von der Dienststelle erst, wenn sie in der Schweiz Steuern bezahlt hatten. Auch bei der Polizei und ihrem begabtesten Fotografen kommt eben nicht immer die ganze Wahrheit ans Licht.
Von GUDRUN SACHSE , erschienen im GEO 12 / 2019.
Arnold Odermatt starb im Juni 2021 an den Folgen seiner Alzheimererkrankung. Er war ein unterhaltsamer Mann, ohne Allüren. Er freute sich über Komplimente - schien Dankbar für das, was das Leben ihm beschert hatte.