CSI Aussersihl (NZZ Folio)

Krimiserien wie «CSI» haben das Bild von der Arbeit der Forensiker etwas «verzerrt», sagt der Leiter des forensischen Instituts Zürich, Peter Pfefferli, und lehnt sich auf seinem Bürostuhl zurück. Anders als die Experten bei «CSI» ist Pfefferli nicht in kaltes grünes Licht getaucht und von flachen Supercomputern eingerahmt, die in hoher Auflösung Leichenteile zeigen. Pfefferli umspielt gräuliches Nachmittagslicht, an den Wänden seines Büros in Zürich Aussersihl hängen ein paar Wimpel. In einem Raum, weit entfernt vom Glanz der TV-Jäger, fragt man sich: Wie arbeiten Forensiker denn wirklich?

«Nehmen wir einen Modellfall», sagt Peter Pfefferli: «Eine kleine Zweizimmerwohnung. Auf dem Fussboden vor dem Bett liegt ein Toter. Bekleidet ist er mit einem T-Shirt, Jeans, die Schuhe sind ihm von den Füssen gerutscht. Er ist Mitte dreissig, neben ihm liegt eine Pistole, Jennings Kaliber 22 Long Rifle, geladen mit vier Patronen, eine Pa­trone im Patronenlager, zwei Patronenhülsen auf dem Schlafzimmerteppich, ein Einschussloch im Rahmen der Schlafzimmertür, ein Einschussloch in der rechten Schläfe. In der Wohnung herrscht Chaos. Ein Nachbar hat ihn am Abend in der Wohnung gefunden. Die Tür war angelehnt. Selbstmord oder Mord?» fragt Pfefferli.

Besteht die Möglichkeit, dass jemand keines natürlichen Todes gestorben sein könnte, rückt der kriminaltechnische Einsatzdienst aus mit einem Kleintransporter, gefüllt mit 15 Koffern mit Spezialgeräten: Pinseln und Pulvern, Taschenlampen und Türzylindern, Gummihandschuhen und Gips. «80 Prozent der Lösung eines Falles geschehen am Tatort bei der Spurensuche und -sicherung», sagt Martin Lory. Vor Ort findet man Männer wie ihn: Ende vierzig, gutsitzendes hellblaues Hemd, wacher Blick, klare Sprache. Lory ist Experte für Schusswaffen und Brände. Seine letzten Fälle führten ihn ins schwyzerische Einsiedeln zum Mann, der Frau und Tochter erschossen hatte, und in den Simplontunnel nach dem Brand eines Güterzugs.

Wenn Lory loszieht, ist immer ein Kollege dabei, um Varianten möglicher Tatabläufe zu besprechen, die sich aufgrund der Spuren beweisen oder ausschliessen lassen. Um den Tatort nicht zu kontaminieren, trägt Lory bei der Spurensicherung einen weissen Schutzanzug, Mundschutz und Handschuhe. Im letzten Jahr sicherten die Zürcher Kriminalforensiker Spuren an 3600 Tatorten.

Zuerst untersuchen sie den Boden Millimeter für Millimeter mit Taschenlampen nach Schuhspuren. Sie fotografieren mit der Vermessungskamera den Tatort im Überblick und einzelne Details. Systematisch arbeitet sich das Team zum Toten vor. An ihm sichern sie mit einem Wattetupfer Fingernagelschmutz für die DNA-Analyse und drücken Klebebänder – Zone für Zone – auf die Kleider des Opfers. Die Idee, mittels Klebeband Faserspuren oder Haare zu sichern, hatte der Zürcher Botaniker Max Frei-Sulzer Anfang der 1950er Jahre. Seither gehört diese Methode weltweit zum Standard in der Kriminaltechnik. Im Labor durchmustern Fachleute die Klebebänder stundenlang unter dem Stereomikroskop.

Weist der gefundene Tote einen Kopfschuss auf, wie in unserem Modellfall, bereitet Lory einen Schmauchtest vor: Er zieht sich zinkfreie Gummihandschuhe über – zinkfrei, da die gängigen Kaliber Zinkbestandteile im Schmauch aufweisen, und alles andere Zinkhaltige den Nachweis der Schmauchspuren verfälschen würde. Am Kopf und an den Händen des Opfers sucht er nach Verbrennungspartikeln des Mündungsfeuers, deren Verteilung Aufschluss darüber gibt, wie weit die Waffe vom Opfer entfernt war, als der Schuss es traf, oder ob der Tote die Waffe gegen sich selbst richtete.

Lory legt auf das Einschussloch an der Schläfe ein rundes Stück Löschpapier, das er eine Minute lang andrückt. Dasselbe wiederholt er an den Händen des Toten. Will er dasselbe Verfahren bei Tatverdächtigen anwenden, muss er sich beeilen. Schmauch lässt sich abwaschen und verschwindet durch Reibung. Nur bis vier Stunden nach der Tat lassen sich Spuren davon nachweisen.

Noch am Tatort befeuchtet er die Löschblätter mit stark verdünnter Weinsäure und trocknet sie mit einem Föhn. Ein Reiseföhn gehört in ­jeden Einsatzkoffer. Die Schmauchpartikeln sind jetzt angelöst und werden auf den Papier­oblaten zur weiteren Untersuchung mit ins Institut genommen. Dort sprühen Experten Natriumrhodizonat auf das Filterpapier mit den Partikeln. Mit der Stereolupe und ­einem automatischen Schmauchspuren-Scanner suchen und markieren sie die orange- und weinroten Pünktchen. Ihre Verteilung zeigt, ob und, wenn ja, wie Täter oder Opfer mit der Waffe in Berührung kamen. 1954 werteten Gerichtsmediziner in England und Deutschland erstmals Schmauchspuren aus. An der Technik hat sich seither wenig verändert. Mögen Löschpapier und Föhn altbacken anmuten – die Methode ist international im Einsatz, auch das amerikanische FBI und das deutsche Bundeskriminalamt arbeiten nach ihr. «Seit vierzig Jahren ist sie das Beste», sagt Lory.

Wann sich eine Methode ändert, hängt manchmal von zufälligen Laborfunden ab, manchmal ist es ein tüftelnder Mitarbeiter, der herausfindet, dass sich eine ein­seitig klebende, durchsichtige Kunststofffolie für die Schmauchabnahme besser eignet als Löschpapier, so wie kürzlich ein Berner Kollege. Die Zürcher denken dar­über nach, ihre Koffer umzurüsten.

Der Tote in Pfefferlis Modellfall hat ein rundes, dunkles Einschussloch, gleich oberhalb des Ohrs. Die Kugel steckt noch im Kopf, eine Austrittswunde fehlt. Die verwendete Munition 22 LR ist «relativ energiearm», sagt Lory, «wenig geeignet für einen sicheren Suizid». Aus dem Loch ist kaum Blut gesickert, aber die Waffe hat feine Spritzer abbekommen, die den Blutspurenspezialisten bereits Hinweise auf den Tatablauf liefern. Befänden sich auch Blutspritzer an den Wänden oder am Boden, liessen sie sich dreidimensional vermessen: Anhand von Aufnahmen könnte dann der Ursprungsbereich der Blutspritzer berechnet und ein Tat­ablauf rekonstruiert werden. Solche virtuellen Rekonstruktionen des Tatherganges sind für die Beurteilung durch das Gericht wichtig. Lory erinnert sich an einen Fall, in dem winzige Blutspritzer auf den Hosen des Opfers sowie den Ärmeln des Täters gefunden wurden. Daraus konnten Fachleute rekonstruieren, dass das Opfer kniete; es also hingerichtet wurde.

Seit 2006 arbeitet die Zürcher Forensik mit einem 3D-Laserscanner, der eine Wohnung in zwei Stunden abtastet. Das Gerät sieht aus wie ein kleiner Koffer und wiegt knapp 13 Kilo. Der Scanner dreht sich auf einem Stativ um 180 Grad, der Laserstrahl wird über einen rotierenden Spiegel in vertikaler Achse abgelenkt. Später am Computer bewegen sich die Experten durch eine hochaufgelöste 3D-Ansicht der Wohnung und markieren darin gefundene Spuren oder sehen sich nachträglich Details in Grossaufnahme an: Sie können die Perspektive wechseln und den Blickwinkel der am Tatort anwesenden Personen einnehmen. 180 0000 Franken kostet das Gerät. Die Zukunft sieht aber weit mehr vor.

Mit finanzkräftiger Unterstützung aus der Wirtschaft arbeiten niederländische Wissenschafter am Projekt «CSI The Hague», dem Traum jedes Kriminalisten: Gericht, Verteidigung oder Anklage sollen den Tatort künftig virtuell begehen können. Dafür setzt sich ein Spezialist ein Gerät auf den Kopf, eine Art Tropenhelm mit zwei seitlich befestigten Scannern, die den realen Tatort detailliert aufzeichnen und Spuren vor Ort analysieren. Um den Tatort später anzuschauen, setzt man sich den Helm auf und ist per Knopfdruck mitten im Geschehen.

Für Lory keine kühne Zukunftsvision. Vermutlich wird auch er sich in seiner noch bevorstehenden Dienstzeit so an den Tatort zurückversetzen lassen. Die Gefahr dabei: Die modernen Methoden ermöglichen virtuelle realistische Rekonstruktionen, die zu viele nicht bekannte respektive nur angenommene Details zeigen, wie beispielsweise Körperhaltungen oder Handlungen. Ein Leitspruch in Zürich lautet: Die Technik ist immer nur das Hilfsmittel. «Wir müssen das Resultat im Zusammenhang des Ablaufes sehen und in Versionen denken», sagt Lory, nur so liessen sich Fehler vermeiden. Wie etwa der, der deutschen Ermittlern unterlief. Auf der Suche nach einem vermeintlichen Serientäter folgten sie jahrelang einer Trugspur: Das an 40 verschiedenen Tatorten gefundene identische DNA-Material stammte nicht von einem Verbrecher, sondern von der Fabrikarbeiterin, die die Wattestäbchen verpackt hatte, mit denen die DNA-Proben genommen wurden. Immer wieder verleiten DNA-Spuren zu falschen Interpretationen. Auch sie können verschleppt oder übertragen werden oder zu einem anderen Zeitpunkt an den Tatort gelangt sein.

DNA enthält die genetische Information des Menschen. Durch Zufall gelang es 1984 dem britischen Humangenetiker Alec Jeffreys von der Universität Leicester, aus menschlichen Zellen ein typisches Genmuster herauszulesen, das für jeden Menschen individuell ist – ausser bei eineiigen Zwillingen. Knapp ein Jahr nach der Entdeckung kam die Methode erstmals zum Einsatz. 1986 wurde das erste spektakuläre Verbrechen gelöst, als der genetische Fingerabdruck bei einem doppelten Sexualmord den Täter überführte. Seither konnte Jeffreys’ Methode zahlreiche Fälle lösen, so prominente wie die Identifizierung der Leiche von KZ-Arzt Josef Mengele, aber auch bei langjährig Inhaftierten die Unschuld beweisen. Jeffreys forscht noch immer an der Universität Leicester und gilt heute als Kritiker des in seinen Augen zu leichtfertig angewendeten Verfahrens.

Molekularbiologen arbeiten in Rotterdam an einer Methode, die es ermöglichen soll, von einer DNA-Spur auf die äusserlich sichtbaren Merkmale – die Augen- und Haarfarbe sowie das ungefähre Alter – einer unbekannten Person zu schliessen.

DNA-Tests revolutionierten die Kriminalistik, aber sie liefern nur einen kleinen Teil der Informationen, die Experten bei einem Mordfall verarbeiten. Wichtig sind zum Beispiel immer noch die Fingerabdrücke. Seit 1897 Scotland Yard den ersten Verbrecher anhand von Fingerabdrücken überführt hat, tragen die klügeren unter ihnen Handschuhe.

Am Tatort unseres Modellfalls machen Spurensicherer mit Pinsel und Pulver aus gemahlenem Aluminium Fingerabdrücke am Türrahmen sichtbar. Die Papillarleisten an Händen und Fingern sind bei jedem Menschen einzigartig – und im Gegensatz zur DNA auch bei eineiigen Zwillingen unterscheidbar. Die besten Abdrücke sichern sie auf schwarzer Gelatinefolie. Lory steckt Waffe und Hülse am Tatort in numerierte Klarsichtbeutel, während sein Kollege protokolliert. Etliche Kisten gefüllt mit Beweismaterial werden aus der Wohnung geschafft.

Sind alle Spuren um den Leichnam gesichert, kniet sich Sabine Franckenberg für die sogenannte Legalinspektion neben den Toten. Die 31jährige ist Assistenzärztin am In­stitut für Rechtsmedizin. Franckenberg entkleidet ihn und überprüft die Haut auf Verletzungen und andere Auffälligkeiten wie Stauungsblutungen in Gesicht, Augen und Schleimhäuten, die etwa bei einer Drosselung entstehen können.

Bei unserem Modellfall deutet die Wunde am Kopf darauf hin, dass aus relativ kurzer Distanz geschossen wurde. Aufgesetzt war der Schuss nicht, die Stanzmarke, eine Art «Abklatsch» der Waffenmündung, fehlt. Um das Einschussloch ist ein schwärzlicher Schmauchsaum sichtbar. Franckenberg untersucht Schultergürtel, Brustkorb, Becken, Arme und Beine auf Brüche. Dann beurteilt sie die Totenflecken: Menge, Farbe und Verteilung. Weil das Blut der Schwerkraft folgt, entstehen sie normalerweise an tiefer gelegenen Körperteilen und erlauben deshalb festzustellen, ob die Lage des Toten nachträglich verändert worden ist. Die Totenstarre beginnt meist nach 2 bis 3 Stunden in der Kiefer- und Nackenmuskulatur. Nach sechs Stunden geht sie auf den ganzen Körper über und löst sich wieder vollständig nach 36 bis 48 Stunden.

Mit einem kleinen Hämmerchen schlägt die Rechtsmedizinerin auf den Armbeugermuskel am Oberarm, um zu prüfen, ob sich auf mechanische Reizung noch eine lokale Muskelkontraktion – spürbar als kleiner Wulst – hervorrufen lässt. Dann untersucht sie Augen und Nasenhöhlen, Gehörgänge, Mundhöhle, Genital- und Analregion. Mindestens 8 Zentimeter tief wird die Körperkerntemperatur des Toten gemessen – rektal – und mit der Raumtemperatur verglichen. Aus der Temperaturdifferenz, den Leichenflecken und der Totenstarre kann die Rechtsmedizinerin den Todeszeitpunkt auf Stunden genau schätzen. Bei stark Fäulnisveränderten immerhin noch auf Wochen, bei Skelettierten nur noch auf Monate oder Jahre.

Wenn Rechtsmediziner wegen starker Zersetzung der Leiche an Grenzen stossen, helfen forensische Entomologen. Anhand auf der Leiche gefundener Insekten stellen sie fest, wann eine Person ums Leben kam, ob die Fundstelle der Tatort ist oder wie lange der Körper an einer bestimmten Stelle lag. Ein erster entomologischer Einsatz fand in China im 13. Jahrhundert statt. In einem Reisfeld wurde ein Bauer tot aufgefunden. Am Tatort und an der Leiche fanden sich keine brauchbaren Spuren, einzig die Verletzung, die zum Tod führte, bot einen Anhaltspunkt, sie stammte von einer Sichel. Am folgenden Tag mussten alle Arbeiter des Dorfes ihre Sicheln vorführen, auf einer liessen sich Schmeissfliegen nieder, sie überführten den Täter.

Auch in Zürich arbeitet man mit forensischen Entomologen zusammen. Die wenigen Experten weltweit ziehen Rückschlüsse, indem sie Arten, Alter und Stadium der Tiere bestimmen. Aus meist Hunderten von Eiern, die Fliegen auf der Leiche abgelegt haben, wachsen Maden heran. Die Maden fressen Leichengewebe, verpuppen sich. Aus den Puppen schlüpfen später Käfer oder Fliegen. Indem der Entomologe das Alter der Insekten bestimmt, lässt sich auch die Lebenszeit der Tiere auf der Leiche bestimmen.

Bestatter bringen die Toten vom Tatort in die Rechtsmedizin auf den Zürcher Irchel, wo man sie in Kühlfächer legt. Im schummrig beleuchteten Raum duftet es streng süsslich, nach einer Mischung aus Urin und Veilchen.

Seit zwei Jahren werden in Zürich die Toten vor der Obduktion tomographiert. Virtopsie nennt sich diese virtuelle Autopsie mit Hilfe von Computertomographie, Magnetresonanztomographie und 3D-Oberflächenscan. In Bern in den 1990er Jahren entwickelt, ist sie überall dort im Einsatz, wo es die finanziellen Mittel zulassen. Computer- und Mag­netresonanztomographen sind millionenschwere Investi­tionen, die sich nur die wenigsten Institute leisten können.

Bei der Fahrt durch den Tomographen wird der Körper des Toten schichtweise aufgenommen. Nach jeweils einem halben Millimeter wird ein Foto geschossen. Am Bildschirm bewegt sich die Assistenzärztin Sabine Franckenberg durch ein dreidimensionales Modell des Körpers. Der Schädelknochen wird virtuell entfernt, Gewebe erscheint in unterschiedlichen Farben, und Knochen werden durchsichtig wie Glas. So können organische Veränderungen entdeckt und Knochenbrüche erkannt werden, die einer Tat vorausgingen.

Im forensischen Institut steht Beat Keller zwischen Laborgeräten und Chemikalien. Das Labor sei seine «Spiel­wiese», sagt er und geht zu seinem liebsten Stück, dem Cyan­acrylat-Schrank. Es ist eine Art Ofen, in dem er Fingerabdrücke auf glatten Oberflächen sichtbar macht. Nachdem er das Tatwerkzeug hineingehängt hat, tropft er ein wenig Cyanacrylat – was nichts anderes ist als Sekundenkleber – in ein Aluminiumschälchen, erzeugt im Schrankinnern eine Luftfeuchtigkeit von 70% und erhitzt den Klebstoff auf 130°C. Die dadurch entstehenden Dämpfe polymerisieren auf dem Gegenstand und verbinden sich mit der Restfeuchtigkeit – dem sogenannten Hydrolipidfilm, der hauptsächlich aus Schweiss und Talg besteht – zur daktyloskopischen Spur. Die Methode sei zwar schon einige Jahre alt, aber «absolut genial», sagt Keller. Der Bedampfungsvorgang dauert 20 Minuten.

Keller ist zufrieden, wenn etwa auf dem Waffenlauf ein weisser Fingerabdruck sichtbar wird. Um ihn noch deutlicher hervortreten zu lassen, wird er mit einem lumineszierenden Reagenz eingefärbt. Nicht immer sei der Abdruck klar zu sehen, sagt er. Keller überprüft täglich diverse daktyloskopische Spuren mittels Stereomikroskop oder in einem Bildbearbeitungssystem am Computer auf ihre ­Qualität und Verwertbarkeit. Die gesicherten Fingerabdruckspuren übermittelt er an das Automated Fingerprint Identification System des Bundes (AFIS), wo sie mit dem Datenbestand registrierter Personen verglichen werden. Rund 750 000 10-Finger-, Handballen- und Handkanten-Datensätze sind in Bern registriert. Jährlich werden 132 500 Überprüfungen mit Hilfe von AFIS durchgeführt. Auf Kellers Spielwiese wird auch getüftelt. Wie hier entwickeln weltweit Labors ihre Spezialmischungen, manchmal allein des Klimas wegen. Eine Methode, die im Süden funktioniert, kann in nordischen Ländern versagen.

Nach der virtuellen Autopsie kommen die Toten auf den Obduktionstisch in einen gekachelten, hell erleuchteten Raum. Sabine Franckenberg trägt Gummischürze und Gummischuhe. Sie durchtrennt mit dem Skalpell die Kopfhaut von Ohr zu Ohr. Dann zieht sie die Kopfschwarte über das Gesicht, das Schädeldach liegt nun frei. Mit einer feinen Knochensäge durchtrennt sie kreisförmig das Dach, entnimmt das Gehirn, schneidet es in Scheiben und begutachtet es.

Hat der Tote, wie bei unserem Modellfall, einen Einschuss im Kopf, entscheiden Kugellage und Verlauf des Schusskanals, wie geschnitten wird. Informationen, die Franckenberg durch die Virtopsie erhielt. Das Gewebe im Schusskanal ist aufgeweicht, mit einer Plasticpinzette entfernt sie die kleine Kugel, die zu einem unförmigen metallischen Klumpen verformt ist.

Den Toten werden die Organe entnommen und untersucht. Am Schluss löst die Rechtsmedizinerin am ganzen Körper die Haut vom Unterhautfettgewebe und der Muskulatur und klappt sie wie einen Lappen nach unten, um im Weichteilgewebe Verletzungen zu suchen. Eine Obduktion dauert rund vier Stunden.

Das aus dem Schädel entfernte Projektil geht per Kurier an Martin Lory und wird im Büro der Kriminaltechnik 2 untersucht. Das Büro mit einer Reihe Computern und einem Bäumchen in der Ecke ist das Herz der Schweizerischen Zentralstelle zur Auswertung von Schusswaffen­spuren. Hier vergleicht man Waffen- und Munitionsteile aller ungeklärten Schusswaffen­delikte mit sichergestellten Waffen.

Im Waffenarsenal liegen und hängen in einfachen Holzschränken über 2000 Handfeuerwaffen, im Keller zusätzlich Langwaffen, wie Schrotflinten und Maschinengewehre. Zürich hat die grösste forensische Vergleichswaffensammlung der Schweiz: Smith & Wesson, Beretta, Walter, Glock, Taurus und dazwischen klein und unscheinbar auch die amerikanische Jennings aus unserem Modellfall.

Martin Lory fährt mit dem Lift in den forensischen Beschusskeller. Hier wird getestet, ob eine am Tatort gefundene Waffe funktioniert und damit als Tatwaffe überhaupt in Frage kommt. Zudem sollen Schüsse mit Vergleichsmuni­tion zeigen, ob Projektile und Hülsen mit denen vom Tatort übereinstimmen, denn jede Waffe hinterlässt auf dem Geschoss und der Hülse ihre individuelle Handschrift in Form von feinsten Schartenspuren und Abdrücken.

Aus einer Schublade nimmt sich Lory Vergleichsmuni­tion und steckt sie in das Magazin der Jennings. Er zieht sich Brille und Gehörschutz an. Ein Knall. Der Geruch von Schiesspulver breitet sich im engen Beschussraum aus. Lory beugt sich über den Schusskanal, eine hauseigene Konstruktion aus Eternitplatten, gefüllt mit Baum- und Schafwolle, «eine optimale Konstruktion, um die Kaliber sanft aufzufangen», erklärt er. Lorys Arme stecken bis zu den Ellbogen in Schafwolle: «Irgendwo muss es sein», murmelt er und sucht nach dem Projektil. 5,6 mm Durchmesser haben die Projektile der Jennings Kaliber 22 LR, «verdammt klein». 250 Franken kostet so eine Pistole im Laden, auf der Gasse das Dreifache. Leicht wie ein Handy, teilweise verchromt, «eine Waffe für die Handtasche», sagt Lory, und noch während er sie zu «Trash» erklärt, hat er das Projektil in dem fünf Meter langen Schusskanal entdeckt.

Im Büro der Kriminaltechnik 2 untersucht Lory die Projektile aus dem Beschussraum und aus der Rechtsmedizin in einem kleinen Tischscanner. Seit 2004 arbeitet man in Zürich mit einem ballistischen Identifikationssystem. Das System «Evofinder» wird in St. Petersburg in Russland hergestellt und auch vom Bundeskriminalamt in Deutschland benutzt. Der automatische Vergleich mittels Korrelation der Schartenspuren erspart den Forensikern die mühsame Untersuchung der Projektile und Hülsen am Vergleichsmikroskop. Lory liest im Scanner Hülsen und Patronen ein, die Spuren auf Projektilen und Hülsen erscheinen auf dem Bildschirm stark vergrössert als abstrakte Gemälde aus schwarzen und grauen Linien.

Es sind Puzzleteile, die Lory und seine über hundert Kol­legen des Forensischen Instituts in Zürich suchen, auswerten und später zusammenfügen. Da sind vielleicht die Schmauchpartikeln, die einen Selbstmord ausschliessen, da ist vielleicht der Fingerabdruck, schön wie eine Blüte, den der Täter auf dem Magazin der Waffe zurückliess, da sind vielleicht Mikrospuren an der Kleidung des Opfers. Alles nur Indizien. Noch fehlt der Täter. Doch dafür sind in Zürich – anders als in Krimiserien wie «CSI» – nicht auch noch die Forensiker zuständig. Das ist Sache der Ermittler.


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Am Tatort", 2011.