Constantas Herz


Ovid ist ein gutaussehender Mann: schlanke Figur, fordernde Gesichtszüge, lockiges Haar. Dass er wirklich so aussah, wie ihn die Bronzestatue auf dem Platz vor dem Archäologischen Museum in Constantas zeigt, ist unwahrscheinlich. Aber den Schrecken im Blick mag er gehabt ­haben, als er im Jahre 9 Constanta erreichte, das damalige Tomis. Kaiser Augustus hatte den Dichter an die östlichste Grenze des Römischen Reichs in die Verbannung geschickt. «Frag nicht, wie es mir geht! Wenn ich alles erzähle, so weinst du», schrieb er aus dem Exil, vom Ende der Welt.

Heute ist Constanta das östliche Ende Europas am Schwarzen Meer. Um die 400 000 Menschen leben in der grössten Hafenstadt Rumäniens. Die typischen Merkmale einer Hafenstadt indes fehlen: Kneipen, Tattooshops, Leuchtreklamen. Trostlos reihen sich Betonblocks aneinander. In meinem Hotel, einem Hochhaus an einer vielbefahrenen Strasse, starrt mich in der Réception ein Fuchs aus toten Augen an. Draussen heulen die Sirenen eines Polizeikonvois. Man verabschiedet sich von einem Kollegen, der bei der Arbeit in den Tod raste. Zum Frühstück bestelle ich einen Tee. Die Bedienung knallt die Tasse wortlos auf den Tisch, ihr junges Gesicht ist ­verbittert. Ein Lächeln wird nur zögerlich erwidert.

Die Bewohner erinnern mit ihren kummervollen Mienen an ihren ­berühmten Verbannten. Vielleicht liegt es am Himmel, der heute schwer wie ein Sargdeckel auf der Stadt liegt. «Die Rumänen haben einen Hang zum Jammern», sagt die Politikwissenschafterin Anneli Ute Gabanyi. Nicht immer grundlos, fügt sie an, wenn sie an die Rolle Rumäniens in der EU denke, an die des «vornehm Ignorierten». Dabei sei Rumänien das einzige Land des ehemaligen Ostblocks, das dem westeuropäischen Kultur- und Sprachkreis angehöre, das einzige, das in einem Volksaufstand den Sturz der Diktatur herbeigeführt habe. ­Rumänien sei wie kaum ein anderes osteuropäisches Land geostrategisch bedeutsam.

Durch Rumänien laufen wichtige Energietransitrouten: zum Kaspischen Meer, nach Zentralasien, nach Iran. In Arbeit ist die Nabucco-Pipeline, die eines Tages iranisches Gas nach Europa liefern soll, und die Ölpipeline, die den Hafen Constanta mit Triest in Italien verbinden wird. Rumänien ist in der Schwarzmeerregion auch ein wichtiges Durchgangsgebiet für den illegalen Handel von Drogen, Waffen und Menschen. Darum erinnert der Hafen von Constanta an eine moderne Festungsanlage.

Der Dichter steht auf seinem Sockel, um ihn herum parkierte Autos. Der alte römische Hafen befindet sich in seinem Rücken, von ihm sind einige Fragmente übriggeblieben. Der Grossteil versank an der Stelle, wo jetzt riesige Containerschiffe einfahren. Wie eine Teigmasse windet sich der Hafen dem Meer entlang, eingerahmt von einem Hochsicherheitszaun und einem kargen Stück Niemandsland. Im Meer umschliessen die langen Arme der Wellenbrecher die 1,5 Kilometer breite Einfahrt im Norden und Süden. Der Hafen Constanta ist der einzige Europas, der im Wasser gebaut wurde und dadurch eine Tiefe von bis zu 20 Metern hat, was es selbst Schiffsgiganten ermöglicht, ihre Waren an den Anlegestellen zu löschen. 9000 Arbeiter sind im Hafen tätig. Er ist eine Stadt in der Stadt, mit eigenem Spital, einem Kindergarten und einer Autowaschanlage. Fünf Stunden dauert die Besichtigung des Geländes mit dem Auto, zu Fuss eine Woche.

Ovids Klagen sei bloss ein Stilmittel, um die Einsamkeit und Verlassenheit auszudrücken, sagt der Direktor des Archäologischen Museums, Constantin Chera. Im Grunde habe es ihm hier gut gefallen. Im Museum ist ein Raum dem Dichter gewidmet. An den Wänden hängen Fotos von Ausgrabungsstätten und eine handgemalte Karte, die Ovids Weg aus Rom aufzeigt – «einmalig», sagt Chera und setzt sich. Das braune Kunstlederpolster seines Stuhls atmet aus. Ovid ist die Hauptattraktion des Museums. Doch zu kaufen gibt es von ihm nichts. Keine Ansichtskarte, kein Buch, nicht einmal einen Schlüsselanhänger. Das Kassenhäuschen ist verwaist. Eine Frau in engem rotem Pullover raucht in sicherer Distanz eine Zigarette.

Für die Zustände der damaligen Zeit war Constanta «eine zivilisierte Stadt», sagt Chera. Sicher gab es ein «unerfreuliches Meer». Das Meer mit heftigen Stürmen, die fünf bis sechs Mal jeden Winter die Wellen hoch gegen die Hafenwände peitschen, gibt es noch immer. Geändert haben sich die Zustände. Heute sei die Stadt eine Herausforderung für jeden «politisch Zivilisierten», sagt Virgil Breaban, Professor an der Ovidius-Universität. Wer könne, sollte das Land verlassen und politisch kultiviert zurückkommen. Sein Sohn sei Arzt und mache sich gerade auf den Weg. Im Grunde sei das Land unverändert klientelistisch strukturiert, sagt er, die Parteizugehörigkeit wichtiger als Fähigkeiten. Ein kommunistisches Erbe. Rumänien stand zu Beginn der kommunistischen Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg in einem fast absoluten Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion. Später entwickelte das Land eine nationalistische Haltung, die sich in einer Pseudoopposition gegenüber der Sowjetunion äusserte; das steigerte anfänglich das Ansehen Rumäniens im Westen, mündete in den 1980er Jahren aber in eine totale internationale Isolierung.

Nach dem Sturz des Diktators Nicolae Ceausescu 1989 drohte das Land im Chaos zu versinken. Die Inflation galoppierte, Lebensmittel wurden unerschwinglich. 1996 stellte man sich im Jugoslawienkonflikt auf die Seite der euroatlantischen Mächte, was dem Land 2004 den Weg in die Nato und 2007 den in die EU erleichtern sollte. Seit 2008 wird Rumänien von einer grossen Koalition regiert. Beobachter beurteilen das Bündnis skeptisch im Hinblick auf die Erfolgsaussichten im Kampf gegen die Finanzkrise und die Korruption im Land. Fast überall in Osteuropa kriselt es, besonders hart hat es Rumänien getroffen. Für Rumänien geht damit ein kleines Wachstumswunder zu Ende. 2008 betrug das Wirtschaftswachstum 8,5 Prozent. Jetzt schnüren IWF und EU ein Krisenpaket von 20 Milliarden Euro, um den Totalabsturz zu verhindern.

Um zwei Uhr ertönt auf dem Passagierterminal Marschmusik. Die rumänische Militärkapelle hat zu Ehren niederländischer Gäste ihre sandbraunen Uniformen aufgebügelt. Farblich heben sie sich sanft vom Kriegsschiff ab, das den gewichtigen Hintergrund bildet. Diplomaten und Offiziere der Marine trinken Sekt und plaudern. Man erwartet den Staatspräsident Traian Basescu. Der fliegt mit einem blauen Helikopter ein, besichtigt das Schiff, schüttelt Hände, bevor er sich an einer zweistündigen Sitzung für eine effizientere Anbindung des Hafens Constanta an den Hafen Rotterdam ausspricht. Und wie immer die Gelegenheit nutzt, darauf hinzuweisen, wie wichtig Rumänien für Europa sei. Alle Anwesenden nicken freundlich.

Der Direktor des Hafens, Ioan Balan, sieht aus, als habe er seit dem gestrigen Staatsbesuch keine Stunde Schlaf gefunden. Der stattliche Mann im grauen Anzug jammert: Seine Frau schimpfe ständig mit ihm, weil er kaum heimkomme. Alles habe er ihr gelassen: Kreditkarten, Hunde. «Was will sie denn noch?» Er starrt fragend auf die verstreuten Papiere auf seinem Tisch. Sein Büro ist mit hellem Holz vertäfelt. Er drückt auf eine Klingel unter der Tischplatte, und die Sekretärin bringt starken Kaffee.

Als Balan noch nicht im ersten Stock der Hafenbehörde sass, trug er einen Overall und hatte ölverschmierte Hände. Er arbeitete auf den Bohrinseln im Schwarzen Meer. Wenn er daran zurückdenkt, schiebt sich ein Lächeln in sein Gesicht. Später war er für die Sicherheit des Hafens zuständig. Seit einem Jahr ist er oberster Manager des Staatsbetriebes. Auf sehr viel mehr als den Vorschlag zu einer Umbenennung des Korridors Constanta–Rotterdam habe man sich noch nicht geeinigt, sagt er. Der Korridor soll 18 heissen. Die 1 steht für Rotterdam, den grössten Hafen Europas, die 8 für das an achter Stelle liegende Constanta. Mit der Route 18 soll Fracht aus Asien zeit- und kostensparender befördert werden. 1000 Kilometer Weg würden eingespart, wirbt der Hafendirektor, wenn die Waren in Constanta auf Binnenschiffe umgeladen und auf Donau, Main und Rhein nach Rotterdam verfrachtet werden könnten. Das zusätzliche Frachtaufkommen sei problemlos zu bewältigen, sagt Balan. Und man sei darauf angewiesen. «Diesen Monat hat der Hafen 20 Prozent weniger Umsatz als im Vorjahr gemacht.»

Wenn Balan aus dem Fenster schaut, sieht er auf den ältesten und schönsten Teil des Hafens. Das architektonische Herz sind drei Getreidesilos, die Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Ingenieur Anghel Saligny entstanden. Seit 1895 steigerte sich das Handelsvolumen von 105 000 Tonnen auf 1,4 Millionen Tonnen bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Nicolae Ceausescu machte es in den 1980er Jahren zur Chefsache, den Hafen auszubauen. Heute hat der Hafen 156 Liegeplätze auf einer Länge von 30 Kilometern. 2008 wurden knapp 62 Millionen Tonnen umgeschlagen. Bearbeitet und gelagert werden Kohle, Altmetall, Rohöl, Chemikalien, Getreide, Lebensmittel und Schrott.

Neben Kohlebergen stehen schwere Kräne. Ihre Beine so hoch, dass Eisenbahnwaggons unter ihnen durchfahren können. Kürzlich kollidierte ein Lastkran mit einem Wasserkran und brachte den Giganten zu Fall. Gelu ist Chefmechaniker auf einem Wasserkran, der zeitweise sein Zuhause ist. Er führt den Besucher vorsichtig die steile Stiege hinunter. Die Zimmer sind eng wie Verliese.

Es duftet nach Fleischsuppe, die die Köchin für die 11 Männer an Bord gekocht hat. 15 Tage leben und arbeiten sie gemeinsam auf dem Kran. Dann haben sie 15 Tage frei, und die nächste Schicht beginnt. Gelu verdient 1000 Franken monatlich. Die Tage arbeitet er meist ohne Unterbruch, in seine enge Zelle geht er nur für ein kurzes Nickerchen. Ein Radio steht auf dem Regal, über der Pritsche hängt ein Marienbild. Sein Sohn sei 17 Jahre alt und möchte Informatiker werden, vermutlich werde er eine Stelle im Ausland suchen, sagt er. «Aus dem Jungen wird etwas.» Er schubst die Tür zu den Duschen und Toiletten auf, dann entschuldigt er sich und tastet im Dunkeln nach dem Schalter für die Ventilation.

280 private Firmen haben sich auf dem Hafengelände eingemietet. Jeder Sektor innerhalb des Hafens wird von privaten Sicherheitsfirmen bewacht – meist sind das zwei bis drei Männer, die mit Schlagstock und Funkgerät vor ­einem kleinen Häuschen auf einem Stuhl sitzen. Diese ­Sicherheitsfirmen wiederum werden von den 40 Sicherheitsleuten der Hafenbehörde kontrolliert.

Vor fünf Jahren wurde im Hafen der ISPS-Code eingeführt. Der International Ship and Port Facility Security Code besteht aus einem dicken Massnahmenpaket zur Gefahrenabwehr. Ankommende Schiffe müssen der Hafenbehörde übermitteln, welche Ladung sie an Bord haben, die Behörden haben umfassende Kontrollrechte. Die Zollbehörde beschäftigt im Hafen 230 Personen, die mit EU-Geldern ausgebildet wurden. Regelmässig würden sie in Trainingscamps weitergebildet, sagt der Chef der nationalen Zollbehörde Sunai Cadir, ein dunkler, hochgewachsener Mann. Die Hauptprobleme sind Terrorismus, Warendiebstahl, Drogenhandel, Menschenhandel, illegale Einwanderung. 60 Prozent der einlaufenden Schiffe würden kontrolliert. Davon seien 5 Prozent «unsauber», sagt Cadir.

Ihr grösster Erfolg der letzten Monate? «1,4 Tonnen Kokain im Februar.» Südamerika und Mittelamerika sind im Visier – neuerdings auch Schiffe aus Afrika. Der Hafen hat zwei Scanner. Eine Durchleuchtung dauert zwanzig Minuten. Da nicht alle eingehenden Container so aufwendig kontrolliert werden können, konzentriert man sich auf Hinweise im Vorfeld: Werden Waren deklariert, die es im Herkunftsland gar nicht gibt? Werden Firmen angegeben, die nicht existieren? Das grösste Problem seien gefälschte Waren. 2005 kamen Kleider, Schuhe oder Uhren im Wert von 40 Millionen Euro an. Eingeführt aus Asien, Dubai oder der Türkei.

Der Weg in den Südteil des Hafens führt durch Schlaglöcher, an der Einfahrt zum Schwarzmeer-Donau-Kanal vorbei, über die Hauptstrasse, durch Wohngebiete; vor einer Schranke mit einem Sicherheitsbeamten müssen wir schliesslich anhalten. Hier im Containerterminal sollen in den nächsten Jahren sieben zusätzliche Anlegestellen gebaut werden.

Für den ganzen Hafen sind millionenschwere Um- und Erweiterungsbauten geplant. Unter anderem eine Verbindungsbrücke zwischen dem Nord- und dem Südteil und eine Verlängerung des nördlichen Wellenbrechers um einen Kilometer, was allein 120 Millionen Euro kostet. Die Finanzierungsanfrage liegt bei der EU-Kommission zur Beurteilung. Vorgesehen sei, dass die EU 70 Prozent der Kosten dafür übernehmen solle, sagt der Hafendirektor Ioan Balan. Er zeigt gegen Ende des Tages etwas Zuversicht. «Nein, nein, wir werden hier in Constanta nicht enden wie unser grosser Vorfahr.» Der römische Dichter Ovid starb nach neun Jahren in der Verbannung – vermutlich an gebrochenem Herzen. 


Von GUDRUN SACHSE, erschienen im NZZ Folio "Am Schwarzen Meer", 2009.