Vier Sekunden bis zum Aufprall (NZZ Folio)


Kevin Hines, wie geht es Ihnen heute Morgen?

Phantastisch. Ich erwachte neben meiner Frau und begrüsste mein lustiges kleines Hündchen. Ich bin zwar nach wie vor depressiv und paranoid und nehme Medikamente. Dank meinem sozialen und medizinischen Netzwerk kann ich aber sagen, dass ich meinen Weg gefunden habe.

Am 25. September 2000 sprangen Sie von der Golden Gate Bridge. Seit der Eröffnung der Brücke 1937 haben sich dort über 1300 Menschen das Leben genommen. Sie gehören zu den wenigen, die den Sprung überlebten. Ist es in Ordnung, wenn ich mit Ihnen über diesen Tag spreche?

Sicher. Ich bin glücklich, wenn ich mit meiner entsetzlichen Erfahrung nur eine einzige Person davon abhalten kann, sich das Leben zu nehmen.

Liegt diese Entscheidung nicht in der Verantwortung jedes Einzelnen?


Selbstmordabsichten sind meist ein temporäres Problem. Wer innert 48 bis 72 Stunden ärztliche Hilfe bekommt, möchte keinen Selbstmord mehr begehen. Anstatt sich auf eine Brücke zu stellen, sollte man sich ins Krankenhaus begeben. Ich halte ja auch Vorträge, spreche vor Schülern, und selbst die US-Army hat mich schon eingeladen, vor Irak-Rückkehrern zu sprechen, von denen nicht wenige gefährdet sind. Oft treffe ich sehr junge Menschen, die sagen, sie hätten Probleme, aber ihre Eltern zeigten einfach kein Verständnis. Gerade psychische Krankheiten werden zu oft noch tabuisiert. Meine Eltern waren da glücklicherweise anders. Sie waren immer für mich da.

Und doch wollten Sie sich das Leben nehmen. Warum?

Ich war bereits damals in psychiatrischer Behandlung und hätte Medikamente nehmen sollen. Ich log meinen Psychologen an, sagte ihm, es gehe mir gut, in Wahrheit nahm ich die verordneten Medikamente unregelmässig ein an Partys auch zusammen mit Alkohol.

Erinnern Sie sich an den Tag Ihres Sprungs?

Als wäre es gestern gewesen. Es war der schrecklichste und beängstigendste Tag meines Lebens. Ich fuhr mit dem Bus zur Golden Gate Bridge. Ich weinte den ganzen Weg lang – auch später, als ich über die Brücke zur Brüstung ging, weinte ich. Es war ein sonniger Vormittag. In meinem Kopf schrien Stimmen: Wir hassen dich. Seit Jahren hatte ich Halluzinationen. Im Bett litt ich Todesängste, wenn dunkle Gestalten auf mich losgingen.

Was dachten Sie, als Sie an der Brüstung standen?

Ein Teil von mir wollte sterben, ein Teil wollte leben. So geht es den meisten, die Selbstmord begehen wollen. Ich glaubte, das Richtige zu tun. Ich war überzeugt, für meine Familie und meine Freunde nur noch eine Bürde zu sein. In meinem Kopf hämmerte eine Stimme: Du musst sterben, stirb.

Hätte es geholfen, wenn Sie angesprochen worden wären?

Möglich. Wer sich das Leben nehmen will, schliesst oft einen Pakt. Wenn mich jetzt jemand fragt, ob es mir gutgehe, oder mich auch nur anlächelt, dann springe ich nicht. Mich sprach eine Touristin an, sie hatte einen deutschen Akzent. Ich dachte, sie käme zu mir, um mir zu helfen. Stattdessen sollte ich sie fotografieren. Aber das ist okay, die Leute haben ihre eigenen Probleme.

Die Brüstung misst 1 Meter 20. Seit Jahrzehnten kämpfen Organisationen dafür, die Brücke für Selbstmörder unattraktiver zu machen. Dieses Jahr stimmte der Brückenausschuss Fangnetzen zu. Ob und wann sie angebracht werden, ist noch unklar. Hätten Netze oder eine höhere Brüstung Sie von Ihrem Vorhaben abgehalten? Oder hätten Sie eine Alternative zur Golden Gate Bridge gesucht?

Nein, hätte ich nicht, weil ich vor allen anderen Todesarten zu viel Angst hatte. Eine Studie zeigte, dass von 515 Personen, die von ihrem Vorhaben abgehalten werden konnten, in die Tiefe zu springen, 94 Prozent keine weiteren Suizidversuche unternahmen. Das Fürchterliche an der Golden Gate Bridge in San Francisco ist, dass sie unter Selbstmördern einen Kultstatus erreicht hat.

Warum entschieden Sie sich für diese Brücke?

Ganz einfach, weil sie mir auf einer Website empfohlen wurde. Es hiess darin, es gehe schnell und sei schmerzlos. Solche Sites werden von Leuten betrieben, die andere sterben sehen wollen. Es stimmt, es ist einfach, über das Geländer zu steigen. Aber alles andere ist eine Lüge, es ist der grausamste, gewaltsamste und langsamste Tod, den man sich vorstellen kann. Der Körper schlägt auf die Wasseroberfläche auf wie auf Beton. 98 Prozent der Leute, die runterspringen, sterben. Sie brechen sich alle Knochen, bevor sie verbluten. Von den restlichen 2 Prozent können die meisten nie wieder gehen.

Der Fall von der 70 Meter hohen Brücke dauert rund vier Sekunden. Blieb Ihnen Zeit, etwas zu denken?

Es geht unglaublich schnell, und der Luftdruck ist so gewaltig, dass man kaum atmen kann, aber ich hatte Zeit für genau einen Gedanken: Bedauern. Was tue ich hier, ich will nicht sterben. Dann schlug ich auf und merkte, dass ich noch bei Bewusstsein war. Ich betete, nicht zu sterben.

Wie schwer waren Sie verletzt?

Ich brach mir Wirbel und Beckenknochen, hatte innere Verletzungen. Ich spürte von unten ein Stupsen – ich dachte, es sei ein Hai. Einer von der Seerettung schickte mir später eine E-Mail: «Ich bin froh, dass du noch lebst, übrigens rettete dir ein Seelöwe das Leben.» Das Tier hatte mich über Wasser gehalten.

Was fühlten Sie, als Sie merkten, dass Sie noch lebten?

Ich war seit langer Zeit erstmals wieder glücklich, am Leben zu sein. Später im Spital stand es sehr schlecht um mich. In der ersten Nacht gaben mir die Ärzte eine Überlebenschance von 50 Prozent. Die ersten drei Jahre verbrachte ich in drei verschiedenen Krankenhäusern und einer geschlossenen Anstalt. Dort realisierte ich, wie sehr meine Freunde und Angehörigen mit mir litten. Ich arbeitete hart an mir. Heute ist jeder Tag, an dem ich aufwache, ein guter Tag.

Inwiefern hat der Sprung Ihr Leben verändert?

Er brachte mir die tragische Erkenntnis, dass dies die falscheste und schlimmste Entscheidung war, die ich je getroffen hatte. Wenn ich gesund gewesen wäre, hätte ich das nie getan. Die Tatsache, dass ich es tat und überlebte, gibt mir die Möglichkeit, meine Erfahrungen weiterzugeben.

Sie wohnen noch immer nahe der Golden Gate Bridge. Können Sie sie problemlos überqueren?

Meine Familie wohnt auf der anderen Seite der Brücke, ich muss also da rüber. Meist fahre ich im Auto, es ginge aber auch zu Fuss. Meine Familie und ich haben mit dem Geschehenen Frieden geschlossen.

Wie haben Sie das geschafft?

Ein Jahr nach meinem Selbstmordversuch nahm mich mein Vater mit zu der Stelle, an der ich gesprungen war, und legte Blumen für mich nieder. Das machen wir seither jedes Jahr. Okay, letztes Jahr hatte ich es vergessen. Dann rief mich meine Schwester an und fragte, was mit mir los sei.

Vielleicht werden Sie doch eines Tages vergessen können?

Nein, nie, was ich erlebt habe, ist dafür zu entsetzlich.



Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Entscheidungen", 2009.