«Vergiss es, es gibt keine eindeutige Grenze» (NZZ Folio)

 erschienen in NZZ Folio August 2021 von Gudrun Sachse


Herr van Schaik, was dachten Sie heute früh beim Blick in den Spiegel?

Oh Gott, bin das wirklich ich?


Auf Gott kommen wir auch noch… zunächst aber: Dass wir uns im Spiegel erkennen, ist ja keine Selbstverständlichkeit. Wer, ausser dem Menschen, schafft das noch?

Unsere nächsten Verwandten können das: Schimpansen und Bonobos. Mittlerweile werden ähnliche Fähigkeiten aber bei immer mehr Tierarten festgestellt: von Elefanten und Delfinen bis zu Elstern und sogar bestimmten Fischarten. Als Alleinstellungsmerkmal der Menschen und Menschenaffen kann das sich im Spiegel erkennen nicht mehr gelten.


Der Grund, warum wir und die großen Menschenaffen einer biologischen Familie zugeordnet werden, ist die gemeinsame Abstammung. Wann trennten sich Mensch und Affe? 


Die Vorfahren der heutigen Schimpansen und Bonobos und unsere Vorfahren haben sich vor ungefähr 6-8 Millionen Jahren getrennt. Das mag lang erscheinen, in der Geschichte des Lebens ist das aber kaum mehr als ein Wimpernschlag. Deshalb sind uns Menschenaffen genetisch noch immer sehr ähnlich. Orang-Utans teilen rund 97 Prozent ihres Erbgutes mit dem Menschen. Die Gene von Gorillas weichen nur etwa 1.7 Prozent ab, und bei den Schimpansen sind es sogar nur 1.2 Prozent.


Was geschah, dass wir uns trennten? 

Der Erfolg unserer Linie war kaum vorhersehbar. Im Gegenteil: Die Menschenaffen sind im Allgemeinen ein evolutionäres Auslaufmodell gewesen. Mit ihren langen Armen und kurzen Beinen waren sie ursprünglich vor allem in den Baumkronen zu Hause. Als ein Klimawandel die Wälder schwinden liess, wurden sie über die letzten 10 Millionen Jahren immer mehr von sogenannten Tieraffen verdrängt. Die konnten sich mit ihren hundeartigen Körpern und Schwänzen einfacher durch die lichteren Landschaften bewegen. Allein die wenigen Menschenaffenarten, die lernten sich halbwegs effizient auf allen Vieren auf dem Boden fortzubewegen, haben überlebt. Unsere Vorfahren entdeckten einen anderen Trick: den zweibeinigen Gang. Er ermöglichte es, rasch zwischen den übriggebliebenen Restwäldern zu wechseln, und auch an Seeufern nach Nahrung zu suchen.

 

Die Menschwerdung beginnt in Afrika. Warum ist man sich da so sicher? 

Definiert man Menschheit als alle, die die aufrecht gehen, gibt es da durchaus ein kleines Fragezeichen. Da könnte die Wiege auch im mediterranen Gebiet liegen oder im westlichen Teil Asiens. Wenn man aber Menschheit definiert als die Gattung „Homo“, dann sprechen die Fossilien eindeutig für Afrika. Und seit ungefähr 2 Millionen Jahren sind diese Menschen mehrfach aus Afrika ausgewandert und haben sich über die Alten Welt verbreitet, und das letzte Mal sogar über die ganze Welt.


Weshalb entwickelten wir uns weiter und nicht die Schimpansen?

Während der ersten Millionen Jahren waren Menschenaffen und unsere Vorfahren nicht sehr verschieden. Das änderte sich als vor ungefähr 2,5 Millionen Jahren Savannen entstanden. Einige von denen, die sich aufrecht fortbewegten, spezialisierten sich, auch weit entfernt von den sicheren Bäumen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das führte zu einem völlig neuen Lebensstil und brachte die Gattung Homo hervor mit einer ganz eigenen Anatomie, die es ermöglichte, zu rennen, zu werfen und sich in der Savanne mit Stöcken und Steinen auch gegen Grosskatzen und Hyänenartigen zu wehren. Die anderen Menschenaffen haben schlicht ihre ursprünglichen Nischen beibehalten und sich deshalb wenig ändern müssen.


Wir aber wurden von Gejagten zu Jägern. 

Ja, als wären unsere Vorfahren von Lämmern zu Löwen geworden. Vermutlich haben sie rasch gemerkt, dass wenn man sich gegen Angriffe verteidigen, man auch anderen die Beute wegnehmen kann. Und so wurde der Homo erectus zum Grosswildjäger, die in grossen Gruppen, mit technologischer Unterstützung und schlauen Jagdstrategien agierten. Weil die erlegten Tiere so gross waren, konnten sie das Fleisch und die Knochen gut teilen.

 

 

Was war das spezielle an den frühen Menschen?

Viele Kollegen vermuten, dass wir die Antwort finden, indem wir Menschenaffen möglichst genau studieren. Doch hilft uns das meist nur, Ähnlichkeiten aufzudecken. Es nützt nicht bei den charakteristischen Unterschieden: Unsere Ahnen fingen an zu jagen und zu sammeln. Alle halfen sich gegenseitig und teilten die erbeutete Nahrung. Das tönt simpel, aber sie mussten sich zuerst das dazu benötigte Wissen und die entsprechenden Technologien aneignen. Diese Erfindungen mussten sozial weitergegeben werden. Das war ein radikaler Bruch mit dem bisherigen Primatenerbe, vor allem, was die neue, auf Kooperation setzende Psychologie anging. Um das zu verstehen, müssen wir auch andere Arten studieren, die ein ähnliches Verhalten aufweisen: gemeinschaftlich jagende Raubtiere etwa, oder Arten, die ihre Jungen gemeinsam aufziehen.


Als Schlüsselfaktoren für die menschliche Entwicklung gelten Zusammenarbeit, Verhalten, Kultur, Kommunikation. Welchen davon sehen Sie als DEN Faktor schlechthin an?

Eindeutig die Zusammenarbeit! Sowohl im Nahrungserwerb, im Weitergeben von Erfindungen, in der Kindererziehung und den anderen Bereichen des Lebens wurde kooperiert, geteilt, kommuniziert, geholfen. Unsere Kinder werden „dumm“ geboren und erst durch das Lehren und das darauf basierende Lernen „schlau“ gemacht. Nur wer seinen Kindern Wissen weiterreicht, kann die komplexe Technologie aufrechterhalten und weiterentwickeln – und das führt zu etwas komplett Neuem, zur kulturellen Evolution.


Ist es Zufall, dass die Wahl auf uns fiel – oder steckt, um Göttliches ins Spiel zu bringen, doch mehr dahinter?

Wir Wissenschaftler gehen vom Zufall aus, da alles andere schlicht nicht erforschbar ist. Es gibt keine Möglichkeit „intelligent design“, also göttliche Interventionen zu verifizieren. Aber wir halten das auch nicht für notwendig. Die Evolutionsbiologie kann die einzelnen Entwicklungsschritte hinreichend schlüssig erklären.


Es gibt diverse alternative Entstehungsideen. Ob Kreationismus mit oder ohne Bibelbezug. Millionen von Menschen leugnen die Abstammung von Affen, warum nur?

Dabei kleben die meisten Zoo-Besucher an den Scheiben der Affengehege! Die Verwandtschaft ist wirklich schwer zu leugnen.  


Wie überzeugen Sie einen Kreationisten?

Gar nicht. Da kann ich reden, bis ich blau werde. Zum Schluss heisst es: Die Evolution sei doch nur Theorie. Dahinter steckt nicht selten die Furcht, dass man mit einer Anerkennung der Evolution seinen Glauben aufgibt und dann das Aufgehobensein in seiner Glaubensgemeinschaft verliert. Die Angst, nicht mehr zu seiner angestammten Gruppe zu gehören, steht über der Vernunft.


Immanuel Kant setzte Vernunft als eine jedem menschlichen Wesen innewohnende Grösse voraus. 

Ich will damit etwa Kreationisten nicht die Vernunft absprechen. Ich denke, die Bildung ist entscheidend. Kinder sind noch offener. Aber ich möchte niemanden zu etwas zwingen, ich kann versuchen zu überzeugen. Aber wenn das nicht klappt, höre ich auf.


Wie vernünftig sind die Menschenaffen?

Vernünftig ist hier ein normativer Begriff. Sagen wir: Menschenaffen sind extrem intelligente, einsichtige Tiere. Sie können lernen, denken, sich erinnern, planen, Werkzeuge herstellen und verwenden. Auch zeigen sie eine ähnliche Plastizität in der Entwicklung wie wir. Menschenaffenkinder lernen fast alle Tricks, die es braucht und können so die Anpassung an die lokalen Bedingungen verfeinern. Der Unterschied zu uns ist dabei: Ihre Eltern setzen sich nicht aktiv ein, um ihnen die Fähigkeiten und Fertigkeiten beizubringen. Das tun nur Menscheneltern.


Im Juni 2017 erschienen in der Zeitschrift "Nature" zwei Artikel, die die Fachwelt aufwühlten: Im Jebel Irhoud-Massiv in Marokko hatten Forscher die Überreste von fünf Homo-sapiens-Individuen entdeckt, deren Knochen sie auf ein Alter von etwa 315.000 Jahren datierten. Damit war die menschliche Spezies rund 100.000 Jahre älter als bislang, zurückgehend auf bisherige Funde in Südafrika, angenommen. 

Der Schädel von Irhoud sieht aus wie ein Homo sapiens Schädel – obwohl er nach Ansicht der Experten auch noch ältere Elemente aufweist. Der Fund zeigt aber, dass unsere Entstehungsgeschichte ein mosaikartiger Prozess ist, kein strikt linearer. Immer trennten sich Linien, vermischten sich wieder, trennten sich erneut, usw.


Interessant ist, dass mit Hilfe virtueller Paläontologie heute Informationen aus Fossilien gewonnen werden können, die vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Ein Schädel aus Irhoud war bereits in den 1960er Jahren gefunden worden, wurde damals aber falsch interpretiert. Wie gehen Sie damit um, zu wissen, dass viel bisher Anerkanntes auf falschen oder ungenauen Annahmen beruht? 

Noch in meiner Studienzeit in den 1970er Jahren war die Interpretationen des nicht allzu reichen Fossilmaterials eher qualitativ. Vieles, was damals gemutmasst wurde, stimmt immer noch, einiges aber auch nicht. Doch Wissenschaft korrigiert sich nun mal selbst. Zuweilen wollen auch Wissenschaftler, Irrtümer nicht eingestehen. Wenn etwas Neues entdeckt wird, bleiben sie beim bisherigen Bild. Lange galt etwa der Neandertaler als Beispiel für primitive oder krankhafte Fehlbildungen. Mit jeder neuen Generation von Forschern kommen jedoch neue Ideen und Ansätze. Letztlich funktioniert das System: Die Wissenschaft ist besser als die Wissenschaftler.


Gesichert ist: Unsere Geschichte wird zwar immer schärfer aber im Detail können wir sie nie lösen. Warum ist es für uns so wichtig zu wissen, wo die Grenzen zwischen Menschsein und Nichtmenschsein liegen?

Die Evolutionsbiologie würde sagen: Vergiss es, es gibt keine eindeutige Grenze. Das ist der Unterschied zu all den Schöpfungsgeschichten, die eine scharfe Trennung zwischen Mensch und Tier ziehen. Offenbar möchten wir uns sehr genau von den anderen abgrenzen. Vielleicht denken selbst Orang-Utans darüber nach. Leider reden sie nicht mit uns darüber. 


Sie waren Biologe, als sie durch ihre künftige Frau, eine Primatenforscherin, auf den Affen kamen. Viele Jahre beobachteten Sie das Verhalten von Orang-Utans im Dschungel von Borneo. Wie schläft es sich in einem Orang-Utan Bett?

Unser Sohn hat das ausprobiert, er fand es bequem. Die Orang-Utans haben einen niedrigen Metabolismus, frieren also rasch. Sie decken sich mit Blättern zu, wenn es kälter wird, oder machen sich ein Dach, damit kein Regen sie überrascht. Mit Blätterdecken aus speziell ausgewählten Baumarten schützen sie sich auch vor Insekten. Sie bauen sich für jede Nacht ein neues Bett, weil sie durch ihr Revier streifen. Manchmal finden sie auch ein akzeptables Bett. Da es aber Parasiten haben könnte, übernehmen sie es nur, wenn sie sehr müde sind.


Sind Sie ein Indiana Jones?

Nicht wirklich, ich bin immer sehr vorsichtig. Seit ich in Zürich an der Uni lehre, leitet meine Frau die Feldforschung in Sumatra. Aber ich bin noch regelmässig dort.


Zwischen Pythons und Tigern. Was ist angsteinflössender? 

Bienen. Vor Bienen habe ich Angst. Und Waldelefanten sind auch überhaupt nicht nett. Immerhin hatte ich Alpträume, als ich mal einem sechs Meter langen Python gegenüberstand. Nachdem meiner Frau einmal ein Tiger begegnet war, sollten wir möglichst nur noch zu zweit unterwegs sein und ein Messer dabeihaben. Meins war aber meist nur ein Sackmesser. Allerdings bin ich auch gerne allein dort. Nach einer Weile kennt man jedes Geräusch und ist vom Urwald aufgenommen. Das ist ein fast religiöses Gefühl.


Denkt man dann noch immer: Der Mensch ist die Krone der Schöpfung?

O nein, im Gegenteil: Man fühlt sich als Teil eines grossen Ganzen.


Sie waren in den 1990er Jahren aktiv im Naturschutz tätig. Warum nicht mehr? 

Ein bisschen bin es immer noch. Aber viele negative Dinge immerzu hinzunehmen und unbeirrt weiterzumachen… da bin ich aus dem falschen Holz geschnitzt. In Sumatra musste ich mit dem Schutz des Regenwalds wegen des Bürgerkriegs aufhören, damals wurde ein enger Freund von mir getötet. Ich baute dann auf Borneo eine neue Forschungsstation auf. Ziel ist dabei immer, auch die Menschen vor Ort zu sensibilisieren. Aber die Probleme sind oft hartnäckig: Auf der einen Seite geht es um den Schutz der Natur, auf der anderen um die Menschen dort und ihren berechtigten Anspruch auf einen halbwegs anständigen Lebensunterhalt.


Wäre die Menschheit heute besser dran, wenn sie sich nicht so weit entwickelt hätte?

Vermutlich müssen sie sich noch ein Stück weiterentwickeln, damit sie nicht so viel Blödsinn macht.


Noch ist die Evolution nicht abgeschlossen.

In den letzten 10 000 Jahren dominierte allerdings die kulturelle Evolution, welche die natürliche Selektion immer mehr aufs Abstellgleis verweist. Wer zum Beispiel nicht gut sehen kann, bekommt eine Brille. Und damit ist es gut. Es braucht keine neuen biologischen Anpassungen mehr.


Die biologische Evolution wurde immer wieder durch Krisen vorangetrieben. Wie gross müssen diese Krisen sein, damit sich etwas tut? 

Die Säugtiere führten in der Blütezeit der Dinosaurier ein Schattendasein. Als ein Asteroid die Saurier auslöschte, ging es mit ihnen rasch aufwärts. Auch wenn die Evolution nie ruht, geht es bei Veränderungen in der Umwelt immer rascher. Da wir als Menschen heute auf Krisen, selbst solche massiven wie den Klimawandel kulturell reagieren, etwa mit Technologien oder Migration, sind keine grossen evolutionären Sprünge in unserer Art zu erwarten – aber sehr viele bei den anderen Tieren und Pflanzen, insofern sie nicht aussterben.


Es ist also nicht damit zu rechnen, dass wir künftig krummer geboren werden, um näher am Handybildschirm zu sein? 

Kulturelle Anpassungen gehen so rasch, dass die genetische Evolution kaum eine Chance hat. Es würde Abertausende Jahre dauern, bis wir uns krümmen würden. Bis dahin werden vermutlich höchstens noch Archäologen wissen, was Handys sind.


Sind Sie froh als Mann und nicht als Frau geboren worden zu sein?

Vielleicht war ich das früher einmal, aber heute sicher nicht mehr. Die Arbeit an unserem letzten Buch, in dem ich gemeinsam mit Kai Michel zu rekonstruieren versuchte, wie es überhaupt zur Ungerechtigkeit in Sachen Geschlechtern kommen konnte, hat mir noch einmal überdeutlich vor Augen geführt, welche vielfach unbemerkten und unverdienten Privilegien Männer selbst heute noch besitzen.


Nun mag sich mancher Mann denken: Warum ist der Mann von der Natur denn nun grösser und stärker herausgebildet worden als die Frau, das muss doch einen Grund geben?

Keine Frage, bei den meisten Säugetieren sind die Männchen grösser und mit grösseren Waffen ausgestattet. Das ist bei den Menschenaffen nicht anders. Die Männchen kämpfen um die Vormachtstellung innerhalb der Männergruppen und damit um Zugang zu den Weibchen. Aber das legitimiert doch keine männliche Dominanz. Die Evolution ist kein Gott, der die Welt mit einem bestimmten Ziel einrichtet. Und überhaupt: Auch unter Menschenmännern sind die stärksten Individuen längst nicht die mächtigsten. Ausserdem, wie man etwa bei den Bonobos sieht, führt das zu nicht automatisch zu männlicher Dominanz – im Gegenteil: Bei den Bonobos dominieren die Weibchen.

 

Warum? 

Weil sich die kleineren Weibchen gegen die Männchen verbünden. Und auch, weil sie sich durch ihren verborgenen Eisprung sexuelle Autonomie bewahren. Da die Männchen nie wissen, wann die Weibchen fruchtbar sind, machen sie erst gar keine Anstalten zu versuchen, sie dauerhaft zu kontrollieren. Das wäre völlig sinnlos. Das sind also weibliche Strategien, die wir neben der ökonomischen Autonomie, also der Unabhängigkeit in der Nahrungsbeschaffung, auch bei unseren weiblichen Vorfahren sehen.


Die Quelle des Patriarchats gründet also in der Kultur, nicht in der Biologie. 

Genau, gut 99 Prozent der menschlichen Evolutionsgeschichte war das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen. Nur gemeinsam konnten die Geschlechter überleben. Auch hier war Kooperation alles. Natürlich gibt es bis heute biologische Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, einen „Sexualdimorphismus“ wie bei den meisten Tierarten. Männer sind im Durchschnitt stärker und eher gewaltbereit. Aber in der tiefen Vergangenheit glichen die Frauen die körperliche Unterlegenheit eben durch ökonomische Autonomie und weibliche Allianzen aus. Und durch sexuelle Autonomie, in dem sie sich die Unterstützung verschiedener Männer sicherten.


Was ging dann schief?

Das änderte sich mit der neolithischen Revolution. Die Menschen hörten auf als Jäger und Sammler herumzuziehen. Durch die Landwirtschaft, den Anbau von Pflanzen und die Zucht von Tieren, gab es zum ersten Mal Privatbesitz. Fortan blieben die Söhne bei den Familien, um zu helfen, das Eigentum zu schützen. Deshalb mussten die Frauen von anderswoher kommen. Sie verloren ihre alten Netzwerke und waren in der fremden Umgebung isoliert. Wegen der neuen Ernährung nahm die Zahl der Geburten zu. Die arbeitsintensive Landwirtschaft machte es nötig, dass bereits Kinder mitarbeiteten. Frauen gerieten also auch gesundheitlich in die Defensive. Das Aufziehen von Kindern, das zuvor ein Gemeinschaftsunterfangen war, wurde immer mehr exklusiver der Mutter zugeordnet. All das verschlimmerte sich, als die ersten Staaten entstanden und die ökonomische Schere noch weiter auseinander ging: Reiche Männer nahmen sich mehrere Frauen. Gesetze und Religion zementierten eine patriarchale Welt, in der es als völlig normal galt, dass Männer über Frauen dominierten.


Ist der Schaden irreparabel?

Zunächst einmal ist wichtig zu verstehen: Männliche Dominanz ist nicht naturgegeben, das ist eine kulturelle Verirrung gewesen. Heute aber sind wir theoretisch in der Lage, die gesellschaftlichen Bedingungen für eine für alle Menschen faire Gesellschaft zu schaffen. Um ein Beispiel zu geben: Wir könnten ändern, dass Frauen nicht mehr allein aus ökonomischen Gründen oder aus Angst, ansonsten allein die Kinder aufzuziehen, bei einem Mann bleiben, und die Gesetzgebung anpassen. Das ist nicht umsonst zu haben, aber erstmals in der Evolutionsgeschichte haben wir es wirklich in der Hand, die Weichen in Richtung einer fairen Gesellschaft zu stellen.


Nun…

Immerhin entspricht es unserem evolutionären Erfolgsgeheimnis eine egalitäre und kooperative Art zu sein, die ohne starke Frauen nicht überlebt hätte. Lassen wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren.


So richtig überzeugend klingt das nicht.

Natürlich ruft jede Lösung eines Problems meist wieder andere Probleme hervor. Und wer ungerechte Zustände beseitigen möchte, schafft oft selbst erst einmal wieder Ungerechtigkeit. Aber wir sehen, die Menschen haben längst mit dem Experimentieren begonnen und zeigen, dass man nicht immer lebenslang monogam leben muss oder dass Kinderkrippen nicht schädlich sind. Schon in einem Jäger und Sammler-Camp kümmerten sich alle um ein Kind. Vieles, was bis vor kurzem religiös verpönt oder gesellschaftlich verboten war, wird durch gelebtes Leben plötzlich normal.


Was wünschen Sie der Menschheit?

Selbsterkenntnis. Die Erfindung der Landwirtschaft führte zu einer unvorstellbaren Bevölkerungsexplosion. Jahrtausende danach befanden wir uns in einer richtig miesen Lage. Doch in den letzten hundert Jahren haben wir uns, zumindest an einigen glücklichen Orten der Erde, gut entwickelt: Wir wurden wieder mehr wie Jäger und Sammler. Wir leben egalitär und demokratisch. Wir sind gesünder, Frauen sind endlich wieder weitgehend ebenbürtig. Entscheidend wird sein, ob Kriege auf uns zukommen werden, weil wir es global ökologisch und ökonomisch – Entschuldigung – dermassen versauen. Wir rasen James Dean-artig auf den Abgrund zu, als gäbe es kein Morgen. Das überrascht mich bei dieser an sich klugen Spezies.


Das spricht für ein Aussterben der Art.

Die Menschheit wird vorläufig nicht aussterben. Dennoch wäre es dringend nötig, die menschliche Gier zu fesseln.


Gier, die es vor sechs Millionen Jahren schon gab?

Vermutlich, aber unter nomadischen Bedingungen konnte sich die Gier kaum durchsetzen. Es gab kein Eigentum, das man anhäufen konnte. Die gegenseitige Abhängigkeit wies den Egoismus der einzelnen in die Schranken. Erst durch Landwirtschaft und Privatbesitz entstanden fatalerweise Bedingungen, in denen sich Masslosigkeit und Gier lohnen. Und das in evolutionären Massstäben erst vor so kurzer Zeit, dass uns psychologisch ein Mechanismus fehlt, der uns zu verstehen gibt, dass es reicht.




ZUR PERSON

Carel van Schaik (*1953) ist niederländischer Zoologe und Anthropologe, der von 2004 bis zu seiner Emeritierung im August 2018 als Professor und Direktor des Instituts und des Museums für Anthropologie an der Universität Zürich wirkte. Er studierte Biologie an der Universität Utrecht und lehrte an der Duke University in den USA.

Carel van Schaik forscht über Primaten, vor allem über die auf den beiden indonesischen Inseln Borneo und Sumatra lebenden Orang-Utans. Sein Interesse gilt dabei den sozialen Interaktionen von Orang-Utans und dem Gebrauch von Werkzeugen und der sich daraus entwickelnden kulturellen Kompetenzen.

Sein derzeitiges Interessensgebiet ist die kulturelle Evolution im Hinblick auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Jüngst dazu erschienen gemeinsam mit dem Historiker Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern. Hamburg: Rowohlt 2020; ebenfalls zusammen mit Kai Michel veröffentlichte er: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Reinbek: Rowohlt, 2016.