Die Mutter aller Schmerzen (NZZ Folio)

Ihr Zeichenlehrer goss einen Kanister mit flüssigem Leim auf die Leinwand, schmiss ein wenig Sand dazu, schüttete einen halben Liter Benzin darüber, zündete ein Streichholz an und liess die ganze Sache hochgehen. Das verkohlte Ergebnis wurde zum Sonnenuntergang erklärt – nach einer Woche war es zu Dreck zerfallen. Die 13-jährige Marina Abramovic wusste, sie würde nie Blumenwiesen malen.

Als sie als junge Frau noch immer bei ihren Eltern in Belgrad lebte, war sie längst Performerin. Die Eltern, einstige Partisanen, der Vater General, befahlen ihr um zehn Uhr abends zu Hause zu sein. Sie kam pünktlich von ihren Auftritten heim: In Galerien peitschte sie sich aus, brannte sich oder schnitt sich die langen schwarzen Haare ab.

Sie stellte sich als Objekt zur Verfügung, mit dem die Zuschauer anstellen konnten, was sie wollten. Einzige Bedingung war, dass sie dafür einige der Gegenstände benutzten, die auf einem Tisch bereitlagen: Ketten, Nägel, Säge, Schwefel, Olivenöl, Parfum, Peitsche, Axt oder Alkohol. Zu Beginn stand Marina Abramovic, das Publikum zog sie aus, legte sie hin. Die Tortur dauerte sechs Stunden, dabei wurde sie beinahe getötet.

Die Begrüssung ist einnehmend. Ich versinke an ihrer Brust, ehe sie mich in der Hotellobby wieder freigibt. Marina Abramovic ist auf der Durchreise. Gestern zu Hause in New York, heute ein Vortrag in London, morgen eine Ausstellungseröffnung in Berlin, dann zur Mutter nach Belgrad. Ihre Mutter, sagt sie, habe sie mit 29 Jahren doch noch von zu Hause ausziehen lassen – nicht widerstandslos. «Sie gab bei der Polizei eine Vermisstenanzeige auf, obwohl sie wusste, dass ich zu meinem Freund gezogen war.» Marina Abramovic lacht über die alte Geschichte. In Berichten über die Künstlerin wird immer auch erwähnt, dass Marina Abramovic mit 60 Jahren aussehe wie knapp 30. Ihre Schönheit widerlegt, dass ihre Schmerzen hässlich sind oder sie hässlich machen.

Die Unversehrtheit überrascht: Keine Narben auf den Händen, als sie sich Butter auf den Frühstückstoast schmiert, keine Spuren der jahrzehntelangen freigewählten Marter. Ihre Stimme ist von der Nacht noch warm und dunkel, als sie sagt: «Los, fragen Sie mich.» Sie fordert im Gespräch dieselbe Konzentration, die sie für ihre Stücke aufbringt. Wenn sie sich in ihren Performances hingibt, ist sie nur noch blind für alles um sie herum. Sie ist dann wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, das auf die Tinte wartet, um sie aufsaugen zu können. Die Handlung interessiert sie, nicht, was dabei aus ihr entsteht.

Das kann so aussehen: Marina Abramovic steht nackt, die Brüste gross und fest, nur mit Stiefeln und Kappe bekleidet, sieben Stunden auf der Bühne und schneidet sich stumm mit einer Klinge einen Stern in den Bauch. Immer und immer wieder. Die Performance «Thomas Lips» hat ihren Ursprung in den 1970ern. Damals sass sie in einer Innsbrucker Galerie am Tisch, ass ein Kilo Honig, trank einen Liter Wein, stand auf, ritzte sich einen Stern in den Bauch, peitschte sich aus, legte sich auf ein Kreuz aus Eis und liess sich den zerschnittenen Bauch von einem Wärmestrahler aufheizen, damit das Blut üppiger floss.

Wie geht es Ihren Verletzungen? 

Ich heile sehr gut. Aber natürlich habe ich Wunden, etwa hier am Oberarm diese Narbe. Verletzungen kommen und gehen.

Warum tun Sie sich das an? 

Der Mensch hat vor zwei Dingen Angst: vor seiner Sterblichkeit und vor dem Schmerz. Nur wenn man sich von beiden Ängsten befreit, kann man sein Leben geniessen. Und das tue ich jetzt. William Blake sagte: Man weiss nicht, was genug ist, bevor man weiss, was mehr als genug ist. Man muss über das Limit hinausgehen.

Wären Sie auf der Suche nach einem Kick, könnten Sie den nicht einfacher bekommen? 

Wie? Mit Bungee-Jumping? Nein. Afrikaner, Indonesier, Japaner haben spezielle körperliche Rituale – aber nicht, um einen Kick zu bekommen, sondern, um ihren Geist zu erweitern. Bungee-Jumping ist dumm. Das bringt dich nicht weiter. Du springst und springst, und dann – passiert nichts.

Und was passiert bei Ihnen? 

Wenn man durch den Schmerz geht, lernt man zu verstehen, wie man ihn kontrollieren kann. Wir wissen, wie Computer, aber nicht mehr, wie Körper und Geist funktionieren. Dabei wären wir allein durch unseren Willen in der Lage, Blutungen zu stoppen, den Herzschlag zu reduzieren, die Körpertemperatur ansteigen zu lassen. Es ist unglaublich, wozu wir fähig wären, wären wir keine Invaliden. Wir orientieren uns nach aussen anstatt nach innen. Der Körper ist ein Kosmos. Ihn zu verstehen, heisst, das Universum zu verstehen. Die Performance ist für mich ein Werkzeug. Ich zeige dem Publikum: Wenn ich durch diesen Schmerz gehen kann, dann könnt ihr das auch. Das ist die Botschaft, die ich vermitteln möchte.

Gibt es einen Unterschied beim Schmerzempfinden zwischen der Künstlerin Abramovic und der Privatperson? 

Im realen Leben bin ich verwundbar wie jeder andere auch. Früher hatte ich furchtbare Migräneanfälle, und wenn ich mich in der Küche mit dem Messer schneide, schreie ich. Ich suche keinen Schmerz. Ich gehe nicht auf die Strasse und lasse mich anfahren. Ich inszeniere meinen Schmerz. Um das zu tun, brauche ich die Energie der Zuschauer. Ohne sie könnte ich das nie.

Warum haben Sie sich das erste Mal bewusst verletzt?

Als Kind hatte ich unheimliche Angst vor Blut. Mit sechs Jahren lag ich ein Jahr im Krankenhaus, und alle dachten, ich würde sterben. Ich litt an einem Problem mit der Blutgerinnung; wenn ich mich schnitt, hörte es nicht mehr auf zu bluten. Als ich mich das erste Mal freiwillig schnitt, trat ich der Angst gegenüber, verbluten zu müssen, die ich als Kind hatte.

Es war nicht Ausdruck der Rebellion?

Doch. Aber nicht nur gegen die Familie. In Jugoslawien waren alle meine Arbeiten Auflehnung gegen die sozialen Strukturen und die des Kunstbetriebs.

Und dafür liessen Sie sich bei einer Performance in Neapel vom Publikum foltern und beinahe töten?

Ich hätte das akzeptiert. Man muss so weit gehen. Es ist verrückt, ich weiss. Ich wollte damals herausfinden, wie weit der Mensch zu gehen bereit ist. Sie sind bereit, dich zu töten. Es hiess damals immer: Ihr Performancekünstler seid Masochisten. In diesem Stück war ich das Objekt, kein Masochist. Das Publikum aber wurde zum Sadisten.

Sie hatten bei der Aktion Tränen in den Augen. 

Natürlich. Die Besucher legten mir Baumwolle um den Hals und versuchten, sie anzuzünden, sie zerrissen meine Kleider, steckten mir Nadeln ins Fleisch. Es gab zwei Performances, die gefährlich waren, weil ich die Kontrolle nicht hatte: diese und «rest energy», in der mir mein damaliger Partner Ulay mit gespanntem Bogen einen Pfeil auf mein Herz richtete. So weit würde ich es heute nicht mehr kommen lassen.

Wie bereiten Sie sich auf Ihre Auftritte vor? 

Vor meiner Performance, bei der ich zwölf Tage weder ass noch trank, hatte ich am Abend Lammkoteletts und Schokoladenmousse gegessen. Wenn man Willensstärke hat und sich einer Sache voll hingibt, dann spielt es keine Rolle, wie man sich vorbereitet hat.

Was haben Sie durch Ihre Kunst über sich gelernt?

Dass es einen Raum gibt, den man immer wieder erreichen möchte, dann, wenn der Schmerz plötzlich aufhört.

Weil Sie das Bewusstsein verlieren? 

Nein. Der Schmerz verschwindet. Ich weiss nicht, wohin, aber irgendwohin. Das Gefühl ist wundervoll. Denken wir an all die religiösen Praktiken, bei denen man einen ekstatischen Zustand erreichen kann, der Körper plötzlich nicht mehr reagiert, ganz gleich, was man ihm antut. Wenn man sich selbst Schmerz zufügt, um sich vom Schmerz zu befreien, dann ist Schmerz in Ordnung.

Sie geniessen Ihre Kunst? 

Meine Performances dauern immer länger, weil ich dabei Zeit für mich habe. Dann bin ich frei.

Könnten Sie sich heute immer noch vorstellen, vom Publikum getötet zu werden?

Ich kann heute so etwas wie ein charismatisches Feld aufbauen, das das Publikum davon abhalten würde, mich zu töten. Was ich den Zuschauern gebe, ist mehr wert als der Wunsch, mich zu töten. Weil ich mir offen Schmerzen zufüge, sehe ich auch ihren Schmerz. Heute ist das Publikum anders. Bei meiner Performance im Guggenheim-Museum haben mich 15 000 Leute gesehen. Sie gingen essen, dann kamen sie wieder und haben zugeschaut, wie ich auf Eisenstäben über Kerzen lag – es fühlte sich an, als würden sich Stäbe in die Haut brennen – es war ein toller Event. Ich möchte nicht, dass das Publikum mit mir Zeit verbringt, sondern, dass es bei mir die Zeit vergisst.

Was geschieht, nachdem Sie sieben Stunden auf einem Metallbett über 15 brennenden Kerzen gelegen sind? 

Wenn das Museum schliesst, führt der Aufseher die Zuschauer nach draussen, und ich bleibe liegen. Ich will, dass die Zuschauer den Eindruck erhalten, dass ich ewig dort bleiben würde. Dann geht das Licht an, und ich stehe auf. Dieser Moment ist unglaublich, weil ich mich von der Performerin in die kleine, schutzbedürftige Marina verwandle, die am liebsten ein Eis oder Schokolade möchte. Es ist ein Gefühl von Befriedigung und absoluter Leere. Ich möchte dann mit niemandem sprechen. Ich gehe nach Hause, verarzte mich, dusche und schlafe ein. Nach den Performances schlafe ich am besten.

Und am nächsten Tag legen Sie sich nochmals auf dieselben Wunden? 

Ja. Wer meine Wunden sieht, erschrickt und fragt: Was ist Ihnen denn da passiert? Dann sage ich, das ist mein Leben. That’s my job. Und sehe ich krank aus? Ich trinke keinen Alkohol, rauche nicht, nehme keine Drogen, ich trinke nicht mal Kaffee. Mein Leben ist extrem geordnet: Ich frühstücke, esse zu Mittag, gehe um elf ins Bett und bin seit sechs Monaten verheiratet. Ich gehe an keine Parties, meide das Nachtleben – das ist mir zu ungesund. In der Kunstszene wird so viel Selbstzerstörung betrieben. Was ich für Leute in fürchterlichem Zustand sehe! Und ich mache all das schmerzhafte Zeug und fühle mich gut. Also muss es gut sein. Irgendwie.


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Schmerzen", 2007.