Lara Soft (NZZ Folio)

Vorbereitung sei das halbe Leben, sagt Instruktor Marc A. Hermann und schöpft aus der Statistik: «Terroranschläge in Westeuropa seit 2016: 90. Anzahl Verletzte 1530. Anzahl Tote: 298.» So sehen das auch die 14 Kursteilnehmer an diesem Samstagvormittag im Mai. Milchig bricht das Licht durch die Scheiben des Industriebaus in Baselland. Meine Mitstreiter tragen Kampfstiefel (Sanitäter F. aus dem Thurgau), Pistolenhalfter (Anwalt R. aus Schwyz), taktische Hosen mit vielen praktischen Taschen (Bankangestellter T. aus Zürich). Sie haben Helme und Sturmhauben dabei. Heilpraktiker M. aus dem Aargau hat eine Stirnlampe auf.

Im Klassenzimmer brennt elektrisches Licht. Vor mir liegen ein Stift und zwei Tage Force-on-Force-Training, das in einer Real-Scenario-Übung seinen Abschluss finden wird. «So stressreich wie möglich», sagt Hermann, der von dem überzeugt ist, was schon Samuel Johnson vor über 200 Jahren formulierte: «Nichts schärft den Geist derart wundervoll wie der Gedanke, am Morgen gehenkt zu werden.» Bei der taktischen Notfallmedizin geht es, anders als bei einem Nothelferkurs, darum, Opfer aus einer Gefahrenzone zu bergen und zu behandeln. Wir trainieren für folgende Szenarien: eine Geiselnahme bei einer Tagung im dritten Stock, der ein Familiendrama in der Cafe­teria folgt. Das Notfallteam stürmt jeweils die Räume, schätzt die Anzahl der Verletzten und beginnt mit Rettungsmassnahmen. Die Herausforderung: Alle Teilnehmer sind bewaffnet und erwarten bewaffneten Widerstand. Das treibe den Puls in die Höhe, weiss Hermann. Er schwört auf die Kombination von Adrenalin und Super-Ninja-Ausrüstung– das Rezept für einen effektiven Lernprozess. Heilpraktiker M. beisst in einen Schokoriegel.

Bei Militär und Polizei ist diese Ausbildung üblich. Es sei von immenser Wichtigkeit, dass kein Soldat bis zum Krieg warten müsse, um den «Gesichtspunkten des aktiven Dienstes» ausgesetzt zu werden, schrieb der Militärhistoriker Carl von Clausewitz im 19.Jahrhundert. Wer kriegerische Szenarien schon einmal durchgespielt habe, komme damit besser klar. Wie aber reagiert der Laie, wenn er unvermittelt in einer Schiesserei landet, wenn er an einen Horrorunfall heranfährt oder zusehen muss, wie sich ein geistig Verwirrter mit einer Machete durch Liestal kämpft?

«Eben», sagt Hermann. Darum habe er seinen Kurs «geöffnet». Seine taktische Notfallmedizin richtet sich zwar vor allem an Waffenträger (auch solche, die sich beim Laden in die Hand schiessen wie ein Kollege von Anwalt R. aus Schwyz). Aber ebenso an Mütter und Väter. Wer je eine Kinderparty erlebt hat, weiss, dass dort bei einem Unfall ähnliche Panik herrscht wie im Gefecht.

Marc A. Hermann hat zur Vorbereitung 145 Seiten Infomaterial verschickt. Im Kurs will er uns an Blut und heraushängende Gedärme gewöhnen – «es muss richtig saften», sagt er. Hermann ist der Freund, den sich jeder wünscht, wenn er im Ausgang mit einem abgeschlagenen Flaschenhals angegriffen wird. Oder die Treppe hinunterstürzt. Anstatt in Panik zu verfallen, wehrt Hermann ab oder geht ruhig den Notfallplan durch. Der studierte Jurist ist eine Mischung aus Rechtswissenschafter, Soldat und Kampfsportler – dazu seit Teenagertagen an Waffen gewöhnt, «für mich ein Werkzeug wie ein Hammer».

Vor ein paar Jahren gründete er in Baselland eine Sicherheitsfirma für Werttransporte und Personenschutz. In der Freizeit fährt der 47jährige in privaten Ambulanzen mit, um sein Medizinwissen zu vertiefen, oder hängt seinen sportlichen Körper zu Trainingszwecken an einen Helikopter, um mit 120 km/h durch die Luft getragen zu werden. Kurz vor dem Flug zweifelte er, «ob ich das wirklich tun soll». Als er dann aber flog, «war mir alles wurscht». Hermann durchlebte, was die Forschung mit «Ungewissheit erzeugt Stress» beschreibt. Um diesen Stress zu bekämpfen, ist es wichtig, sich im voraus viel Information über die anstehende Bedrohung zu beschaffen und sie anschliessend zu durchleben. Schon einmal in Todesgefahr gewesen zu sein kann helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie unser Verstand reagiert und ob wir dem Druck standhalten. Der Psychologe Seymour Epstein von der University of Massa­chusetts Amherst beobachtete den Puls von Erstfallschirmspringern. Er fand heraus, dass die Herzfrequenz kurz vor dem Sprung anstieg. Sobald sie gesprungen waren, fiel sie schlagartig wieder. Die Erwartungsangst ist oft schlimmer als die Erfahrung selbst, schreibt der Autor Jeff Wise in seinem Buch «Hart auf hart».

Um 8 Uhr 50 bekommen wir von Hermann eine Airsoft-Pistole überreicht. «Oder ist einer von euch Pazifist»? Heilpraktiker M. aus dem Aargau streckt auf – er bittet um ein Gewehr. Dann füllen wir die Magazine mit weissen Kügelchen aus Plastic. Besonders gut kann das der Bankangestellte A. aus Zürich, der in seiner Freizeit Personen sichert (zum Spass) und seine Waffe unauffällig unter dem schlammfarbenen Blouson trägt. Eine Waffe verändere ihren Träger, behauptet der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour. Waffenträger würden zu Hybriden, weil sich Waffe und Benutzer zu etwas Neuartigem formierten, schrieb er in seinem Essay «Wir sind nie modern gewesen». So gesehen gebe es auch nicht die Unterscheidung von «richtigen» oder «falschen» Händen, in die Waffen geraten könnten. «Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist nicht mehr dieselbe», meint Latour. Die hier Anwesenden würden das bestreiten.

Bevor wir mit unseren Waffen losziehen, lernen wir ohne Stress. Das empfiehlt auch Marc Taylor vom Naval Health Research Center, einem medizinischen Forschungszentrum der US-Navy in San Diego. «Ein Navy-Soldat muss stressfrei lernen, wie man einen Knoten bindet, bevor er wissen kann, wie man ihn in zwölf Metern Tiefe in 15 Grad kaltem Wasser bindet.» Hat der Soldat diese Fähigkeiten erst einmal gelernt, könne das Ausführen unter realistischen Stressbedingungen doppelten Auftrieb verleihen.

Wir lernen das CABC. GABI aus dem Nothelferkurs war gestern. CABC steht für Critical Bleeding (starke Blutung), Airway (Atemwege), Breathing (Atmung), Circulation (Kreislauf). Hermann betet die Merksätze herunter wie ein Pfarrer das Vaterunser. Overlearning gehört in jedes militärische Training. Was Rekruten immer und immer wieder ausführen, brennt sich ihnen ein und kann auch unter grossem Stress als Reflex abgerufen werden. Hermann hat sich sogar einen Kaffeebecher mit diesen und noch anderen Buchstabenfolgen – AVPU, SICK und ATMIST – bedrucken lassen: «Daraus trinke ich jeden Morgen.» So eine Tasse werde jeder von uns nach bestandenem Kurs bekommen, verspricht er.

Da wir die Tasse noch nicht haben, wird jedem eine bunt bebilderte Tabelle mit den Abläufen ans Hosenbein gepappt. Die Idee der Checkliste stammt aus den 1930er Jahren. Sie wurde von Piloten der US Army «erfunden», um sich im Kampfflieger besser zurechtzufinden. Unter grossem Stress schrumpft unser Arbeitsgedächtnis, und der Wahrnehmungsfokus verengt sich. Trotz diesen Erkenntnissen wünscht sich Hermann denkende Teilnehmer, die «mit einem Blick erfassen», was ihr Vordermann bei der Übung «Raumsicherung» denkt. Welchen Plan Rettungssanitäter F. aus dem Thurgau hatte, als er mit mir gemeinsam das kleine Nebenzimmer stürmt, werde ich nie erfahren – ich vergass, ihn zu decken.

Damit der Streif- oder Steckschuss auch gefunden wird, klebt sich nun jeder drei kleine Pflaster (symbolisch für den Einschuss) an unerwartete Körperstellen. Das Absuchen ist geschlechterübergreifend. Auf drei Frauen kommen elf Männer. Glück hat, wer heute adrette Unterwäsche trägt (der Bankangestellte T. aus Zürich mag Blau, der Anwalt R. aus Schwyz trägt Shorts). Besonders perfid seien Geschosse in der Leistengegend. «Ein zerfetzter Hoden ist keine Freude», sagt Hermann.

Die meisten männlichen Teilnehmer haben sich, anders als es das Script von Hermann für einen Kampfeinsatz vorsieht, nicht am ganzen Körper enthaart. Dabei wären auf einem blanken Körper Verletzungen besser sichtbar und Verbände oder intravenöse Zugänge einfacher zu legen. Letzteres bleibt uns erspart, dafür dürfen wir, nachdem wir das Pflaster gefunden haben, wendeln. Wendeln ist ein viel zu harmloses Wort dafür, einem Fremden einen Gummischlauch in die Nase zu schieben, um die Beatmung sicherzustellen (etwa bei einem Kehlenschnitt, wie der Sanitäter F. aus dem Thurgau weiss und schon gesehen hat). Dazu mache man beim Gegenüber eine «Schweinenase» und schiebe den Wendeltubus Millimeter für Millimeter in die Nasenöffnung – bis er im Rachen wieder rauslugt. T. würgt. Alle würgen.

Hermann hat auch Tips für den Alltag parat: Bei einem Schusswechsel Deckung nie hinter einer Autotür suchen «ist doof für den Chirurgen», der dann nicht nur Kugeln, sondern auch noch Splitter aus dem Körper pulen muss. Abgetrennte Finger oder Zehen im Robi-Dog-Sack samt dem Verletzten zum nächsten Arzt transportieren. Hygiene werde überschätzt. Wer einmal in den Bergen oder der Wüste einen Unfall erlebte, weiss: «Es geht einzig ums Überleben.» Rettungssanitäter F. aus dem Thurgau nickt. Seine Einsätze mit einer Spezialeinheit der deutschen Bundeswehr in Kongo und in Afghanistan haben ihm Worte und Witz geraubt. Dennoch wünscht man sich ihn im Notfall an seiner Seite, denn Mut ist wie Panik ansteckend, weiss die Wissenschaft.

Im Treppenhaus des Industriegebäudes werden die Wände mit Plasticblachen abgeklebt «damit wir nicht nach jedem Kurs alles renovieren müssen», scherzt Hermann. Sein Kollege Sebastian zeigt uns derweil, wie ein Motorradfahrer aussieht, der mit dem Gesicht bremst. Es sei erstaunlich, aus welchen Löchern man notfalls noch atmen könne. Sebastian entwickelt in seiner Freizeit Moulagen, die er heute testen wird. Die Halsschnitte, die herausquellenden Gedärme aus einer offenen Bauchdecke, die Ganzkörperbrandverletzung, er hat an alles gedacht und den Laienspielern, die munter eintreffen, für ihren Auftritt bereitgelegt.

Auch bei uns weht ein Hauch Halloween durch den Raum, als wir uns an einem Quell frischen Bluts verausgaben: vor uns tiefe Schnittwunden, aus denen es Rot spritzt. Sebastian pumpt frisches Kunstblut durch einen Schlauch. Wir sollen es durch Stopfen und Pressen zum Versiegen bringen. Das ist ein probates Mittel gegen Blutphobie, «Habituation» heisst es im Fachjargon. Wir versenken Mullbinde um Mullbinde in den Wunden. Stopfen, pressen, stopfen, pressen. In zwei Kurstagen fliessen in Liestal neun Liter Kunstblut durch Gummiadern. Der Liter kostet 20 Franken.

Schutzbrillen, taktische Handschuhe, Kampfweste und ein durchdachtes Notfall-Kit. Verbände immer griffbereit, hatte Hermann gemahnt, als wir unsere Ausrüstung zusammenstellten, und über die fünffach verschweissten Verbände geschimpft, bei denen «jeder tot ist, bevor die Verpackung offen ist». Ich gönne mir zudem eine Sturmhaube, um Gesichtsschüsse abzufedern.

Wir stehen auf dem grauen Vorplatz mit entsicherten Waffen. Das Adrenalin breitet sich in uns aus wie vor einem Absprung aus 4000 Metern Höhe. Hermann erhält über Funk die Nachricht, dass im dritten Stock Geiseln genommen wurden. Niemand weiss, von wem, wie viele und ob sie verletzt sind. Der Bankangestellte T. aus Zürich möchte die Gruppe anführen. Darf er. Und ich darf gleich dahinter. Eine kurze Lagebesprechung, dann ruft Hermann «go», und das Herz hämmert in den Ohren. Lärm, Schreie, Schüsse irgendwo dort oben. Zu fünft pirschen wir der Wand entlang, erobern Treppenstufe um Treppenstufe. Jeder deckt jeden. Zehn Kilo Material am Körper und eine viel zu warme Mütze im Gesicht. Ich bin konzentriert, als erwarteten mich echte Verletzte in diesen dunklen, vernebelten Zimmern, die wir erst stürmen, dann sichern. Zum Glück hat der Heilpraktiker P. aus dem Aargau seine Stirnlampe an.

Forscher unterscheiden zwischen fein- und grobmotorischen Fähigkeiten. Feinmotorik ist bei grossem Stress kaum mehr möglich. Im Gegensatz dazu sind die grobmotorischen Fähigkeiten – Tätigkeiten grosser Muskeln wie laufen, boxen, springen – relativ resistent gegenüber Stress. Wir schleppen Hundertkilo-Attentäter drei Stockwerke ins Freie und legen traumatisierten Diplomatinnen goldene Knisterfolie um, damit sie nicht auskühlen. Wir halten Fleischwunden zusammen und binden andere ab, bis die Blutungen versiegen. Wir blöken Befehle ins Treppenhaus und beruhigen die Verletzten. Es werden immer mehr. Viel zu viele blutverschmierte Darsteller. Hermann beobachtet aus der Distanz und labt sich mit Notizblock in der Hand an meiner Überforderung.

Seit dem Kurs trage ich ein Notfallset bei mir. Auch an diesem Nachmittag im August, als ich einen blutüberströmten Mann (ich übertreibe) auf einer Wiese fand. Offenes Knie, bis auf den Knochen geöffneter Zeh. Nachdem ich den Patienten (und damit mich) aufgefordert hatte, ruhig zu bleiben, stillte ich die Blutungen, fixierte die Reste des Zehs und begleitete den Mann zum Arzt. In der Praxis bat ich den Arzt, die Wunde übungshalber nähen zu dürfen (ich übertreibe nicht). Er forderte mich auf, das Zimmer sofort zu verlassen. Bis zum Super-Ninja ist es noch ein weiter Weg. Aber immerhin habe ich schon eine Kaffeetasse.


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Lernen", 2018.

 Bild: Dan Cermak