Kuscheln mit Scary (NZZ Folio)


Scary bleicht aus. Die roten, grünen und schwarzen Zeichen in seinem Gesicht sind matt wie ein grafisches Werk Wassily Kandinskys vor der Restaurierung. Nicht nur der Fleck auf seiner Nase gehörte aufgefrischt, der ganze Mann müsste von Kopf bis Fuss überholt werden. Vier Mal hat er das schon gemacht. Das fünfte Mal möchte er noch etwas hinauszögern. Dann wird der 62jährige aber wieder leuchten wie auf dem Poster, das in den Klassenzimmern der Grundschule in Clovelly hängt: grelle Tattoos im Gesicht, schwarze Sonnenbrille und ein grimmig verzogener Mund.

In dieser Schulwoche steht Scary an der Route 39 Academy im englischen Devon auf dem Lehrplan wie Mathematik, Englisch oder Rugby, das eine Handvoll Teenager auf der Wiese neben dem Schulhaus spielen. An zwanzig Tagen im Jahr unterrichtet Scary die Kinder jeweils eine Stunde lang in Toleranz. Er lehrt sie, dass selbstbewusste Leute nicht nach unten treten oder nach oben buckeln. Scary bewegt sich träge wie ein Bär, der keinen Jäger fürchtet. Ein Hüne, der abends Bauchspeck mit Chips isst. Er setzt sich auf das weiche Sofa, sein schwerer Körper sinkt tief ein. Um ihn herum auf Stühlen hocken acht- und zehnjährige Mädchen und Buben in blauen Schuluniformen, zu gross gekauft, damit sie noch hineinwachsen.

Als Scary in ihrem Alter war, entdeckte er auf dem Bizeps seines Vaters einen Anker. Der stammte aus der Zeit bei der Navy im Zweiten Weltkrieg. Jetzt stand Dad in New Hope, Minnesota, in seiner Garage zwischen ausgebauten Motoren und herumliegenden Werkzeugen und trank mit seinen Freunden Bier. Scary hiess damals noch Earl Kenneth Kaufmann. Er war ein besonderes Kind. Er konnte nicht lesen. Wenn er es versuchte, tanzten die Buchstaben vor seinen Augen, bis er müde wurde und einschlief. Die Lehrer kümmerte das wenig, seine Mutter glaubte ihm nicht. «Faul bist du, sonst nichts», sagte sie und schickte ihn aufs Zimmer. Dort hämmerte er mit seinen Fäusten gegen die Wand, bis die Mutter hinaufkam und ihn mit dem Holzlöffel bearbeitete. «Jeder kann lesen, Earl!» schrie sie.

Er hiess Earl, wie der Vater und der Grossvater seiner Mutter. «Ich hasste diesen Namen.» Earl schloss die Schule nicht ab. Mit 19 heiratete er und wurde Vater einer Tochter. Zu dem Zeitpunkt hatte sich sein Dad bereits eine andere Familie gesucht. Earl hörte nie wieder von ihm. Die Vorstellung aber, dass Bilder auf dem Körper eines Mannes Stärke ausdrücken, hielt an, ganz gleich, ob Earl als Babyfotograf arbeitete oder in Tucson, Arizona, wo er inzwischen lebte, in einem Computershop hinter dem Verkaufstresen stand.

Earl war dreissig, als ihm die Vorstellung nicht mehr genügte. Er fuhr in Tucson an öden Gebäuden entlang, als sein Blick auf ein Tattoostudio fiel; er hielt an. «Den Drachen da oben will ich», sagte er im Laden und zeigte auf das Bild eines kleinen, sich windenden Drachen. Er wollte ihn auf denselben Arm wie sein Dad den Anker. Nach einer Stunde und 60 Dollar ärmer «fühlte ich mich wirklich stärker». Zwei Stunden später vor dem Spiegel daheim allerdings auch «asymmetrisch». Der rechte Arm war schrecklich nackt. Also fuhr er am nächsten Tag wieder vor und verschaffte sich Harmonie. Earl wurde wöchentlich bunter. Tagsüber kleidete er sich so, dass niemand etwas von seinem «zweiten Anzug» auf seiner Haut sah. «Das war verlogen», sagt er. Im Sommer 1995 gab er sich seiner Leidenschaft ganz hin: Zuerst kam der Hals dran, es folgten Hände und Finger, bis sich schliesslich die Tinte in die linke Gesichtshälfte hinaufschlängelte. «Lippen und Ohren tun verdammt weh.» Earl hatte mittlerweile selbst zu tätowieren gelernt. Er besass drei Shops, in die er morgens gehen und zum Kollegen sagen konnte: Mach mir noch ein Dreieck auf die Stirn.

Zur Farbe kamen zehn Piercings im Gesicht und Goldzähne. Der unauffällige Earl war auffällig geworden. In Tucson wechselten die Leute die Strassenseite, wenn er ihnen entgegenkam. Sie beschimpften ihn als Wrestler, Biker, Kriminellen, der eine schlimme Kindheit gehabt haben müsse – wer sonst würde sich so etwas antun?

Die Schulleiterin Joss Hayes liebt Scary. Genau wie all die anderen Frauen, die an der Route 39 Academy arbeiten. Vielleicht weil er jedem Menschen ein Kompliment für sein gutes Aussehen mit in den Tag gibt. «Joss, ich mag deine Haare», sagt er über ihren dunkelblonden Pferdeschwanz. Joss holte Scary vor drei Jahren nach Devon. «Gehört Respekt nicht auf jeden Stundenplan?» fragt sie. Einige Eltern liefen Sturm: Was soll dieser Typ hier, was soll der unseren Kindern beibringen? Sie kamen nicht an die Einführung am Elternabend und verpassten, wie Joss meint, die Erkenntnis ihres Lebens. Seit sie nämlich nach den Grundsätzen Scarys lebe, sei sie entspannter: Joss hat seit Jahren keinen mehr einen Idioten geschimpft. Wenn sich ein Autofahrer vor ihr in Langsamkeit übt, dann denkt sie an etwas Schönes, anstatt die Lichthupe einzusetzen.

«Du hast mir echt geholfen», sagt die elfjährige Daisy im Unterricht. Ihr kleiner Bruder nervte und ärgerte sie jeden Tag. Seit Scary im Sommer hier war, gehe sie einfach aus dem Zimmer, wenn er komme, um sie zu provozieren. «Du lässt dir dein Leben nicht von einem Achtjährigen vermiesen – super», lobt Scary mit seiner dunklen, ruhigen Stimme. «Nur du bestimmst über dein Leben. Ihr entscheidet, was in eurem Kopf aus den Worten wird, wenn euch einer beschimpft oder auslacht.»

Wie jeden Morgen ging Earl in seinen Tattooshop. Die lokale Tageszeitung «The Tucson Citizen» lag am Boden. Doch an diesem Tag war nicht ein Inserat für seinen Laden auf der letzten Seite, sondern das Inserat eines Konkurrenten: «Habt ihr es nicht satt, zu diesem ‹Scary Guy› mit seiner Kriegsbemalung zu gehen?» Vielleicht war es Zufall, dass einige Wochen später Earls Tattooshop in die Luft flog. FBI und Polizei fanden nie heraus, wer es war. Doch für ihn stand die Botschaft fest: Wer aussieht wie ich, ist hier nicht willkommen. Earl lebte schon in der dritten Ehe, er nahm Crystal Meth, Kokain und Pot. Wenn er angestarrt und angepöbelt wurde, starrte und pöbelte er zurück. In seinem Leben fühlte sich nur noch gut an, was er auf seiner Haut trug. Die Bemalung bereuen? «Niemals. Ich muss niemandem gefallen. Nur mir.»

Earl zog sich vor den Anfeindungen zwei Jahre lang in eine Lagerhalle mit dicken Mauern zurück, schaute Discovery Channel und horchte in sich hinein. Draussen hatten sich derweil Berater aller Art in unseren Alltag geschlichen: Wohn- und Essberater, Hochzeits- und Schönheitsberater, Erziehungs- und Finanzberater. Die Welt ist kompliziert geworden, ohne Coach nicht mehr zu bewältigen, sagten die Coachs im TV. Earl war 43, als er beschloss, auch einer von ihnen zu werden. «Wenn nicht ich, wer dann?»

Earl beantragte eine Namensänderung. Seit 1998 heisst er «The Scary Guy». So steht es in seinem US-Pass. Auf seinen britischen Pass wartet er indes schon lange: Das königliche Passbüro hat Schwierigkeiten mit der Umsetzung der «acceptable names policy». Scary, der das Thema «Vorurteile und Toleranz» zu seinem Lebensauftrag gemacht hat, kommt damit gut klar. Auch damit, dass er unter seinem Namen kein Hotelzimmer mehr buchen kann und oft mehrfach auf Ämtern anrufen muss. Sein Standardsatz lautet: «Nein, ich mache keinen Scherz, hängen Sie nicht auf.»

Die Schule in Clovelly ist nur einer von vielen Orten in Europa und den USA, wo er seine Botschaft vermittelt: Menschen soll man nicht nach ihrem Aussehen beurteilen. Polizeistationen buchen ihn, die US-Army, Firmen, Kindergärten, Universitäten. «Gehst du eigentlich extra so cool, um uns Angst zu machen?» fragte ihn ein Cop nach einem seiner Auftritte in ihrem Revier. «Nein», antwortete Scary, «ich habe Hüftprobleme.» Schein und Sein. Wer Scary bucht, bekommt zu Beginn eine Show. Er brüllt, zeigt seine verzierte Wampe, nimmt Dünne und Dicke in den Arm, sechzehn Umarmungen braucht der Mensch täglich, sagt er. Das hörte er vor zehn Jahren auf «irgendeinem Wissenschaftskanal».

Scary hat 91 000 Fans und das Maximum von 4999 Freunden auf Facebook. Sein Rezept: «Wer gemobbt wird, weil er anders ist, vertraut mir, weil ich weiss, was er durchmacht.» Mit Ben ist er seit sieben Jahren auf Facebook befreundet. So lange sei Ben nun schon clean. Die Eltern baten Scary um Hilfe, der Sohn sei öfter im Gefängnis als daheim und ständig «high». Scary traf ihn und sprach vier Stunden mit ihm. Er sagte Dinge wie: «Sei keine Nummer, gib dein Bestes, du hast nur dieses eine Leben.» Sprüche, die so platt sind, dass sie bei jedem hängenbleiben. Und wenn nicht sofort, dann gibt sie das Langzeitgedächtnis irgendwann her. Scary setzt bei Jugendlichen auf die Kraft des Darwinismus – «irgendwie will doch jeder überleben», sagt er. Haben sie den Sumpf durchquert, wird Phase zwei in Angriff genommen: dass das «Irgendwie» eben doch nicht reicht. Dass es um mehr als Darwinismus geht: nämlich darum, glücklich zu leben, ohne andere zu verletzen.

Mit der Schule hat Scary eine Pauschale vereinbart, sonst hat er einen Tagessatz um die 5000 Euro. Er hat ein Anwesen in Wales, ein Büro in Manchester und eine Ranch in Kansas City in den USA. «Nähme ich kein Geld, hörte mir keiner zu», sagt er. Das sagen alle Motivationstrainer. Doch anders als andere wirkt Scary wie ein Buddha, was nicht nur an seiner Masse liegt, sondern auch an der Ruhe, die er ausstrahlt. Auf der Strasse grüssen sie ihn. Im Pub wird aus einem belanglosen «Hi» ein «Darf ich dir mein Herz ausschütten?». Ist er allein zu Hause, beantwortet er unzählige E-Mails, schaltet, wenn es sein muss, die Polizei ein, den Notruf. All das mache er umsonst, sagt er. Ehrensache. «Ich glaube wirklich an eine bessere Welt», sagt er und fügt hinzu: «Irgendwann.»

Ob er sich so einen wie ihn früher in seiner Schule gewünscht hätte? «Das waren andere Zeiten», sagt er. Die digitalen Medien fordern die Kids. Die Anonymität im Netz, das Alleinsein vor dem Bildschirm mit Freunden, die keine sind. Abwesende, überforderte, hilflose Eltern. «Es sind immer die Eltern, die den Kindern das Selbstbewusstsein mit auf den Weg geben», sagt er. «Mein Vater war schwach. Ich suchte mir später einfach einen neuen. ‹Hey›, sagte ich zu einem, den ich mochte, ‹willst du mein Vater sein?› Er wollte. Es kommt nur auf das Selbstbewusstsein an. Meins ist gigantisch.»

Im Klassenzimmer kaut Kate ihre lila gefärbten Haarspitzen. Ihre Freundin Lucie starrt an die Decke. Sieben Tage und sieben Nächte sollen sie niemanden einen Arsch schimpfen, niemanden treten oder schlagen – das sei ein guter Anfang, doziert Scary. Kate würde ihm am liebsten eine reinhauen. Lucie tuschelt Kate ins Ohr. Dann sagt sie laut: «Du siehst aus wie der Weihnachtsmann.» Beide lachen. «Ich mag auch den», sagt Scary. Lucie findet seine Reaktion doof. Sie hatte gehofft, sie dürfe das Zimmer verlassen. Sich gegen Scary auflehnen ist noch besser als die Eltern anzuzicken. Jetzt sitzt sie noch immer da und starrt vor sich hin. «Irgendwann wird es auch bei ihr Klick machen», sagt Scary nach dem Unterricht und zwinkert seiner schönen Frau zu. Seine vierte Ehefrau ist sein grösster Fan, sie organisiert und dokumentiert die Auftritte. Ihr Name «Cathryn» war sein letztes Tattoo. So viel Platz war – zum Glück – noch da.


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "oben und unten", 2016.