Tillmann Brauns Vorsprechen liegt über dreissig Jahre zurück, doch noch jetzt lässt ihn die Erinnerung daran still werden. Er stellt seine Kaffeetasse auf den Holztisch und sagt: «Entsetzlich.» Seit fünfzehn Jahren ist er Professor an der Zürcher Hochschule der Künste, leitet angehende Schauspieler auf dem schmalen Grat zwischen Ängstlichkeit und Grössenwahn. Dass er dereinst Prüfungen abnehmen und damit auf der Seite der Richter stehen würde, hätte der 53jährige nicht gedacht. Wer richtet, der henkt. Träume zu zerstören, sagt er, sei hart. Für den Studiengang Schauspiel bewerben sich jährlich 500 junge Menschen. Mindestalter ist 17, Höchstalter 25 Jahre. Erste Hürde ist der Vortest. Ist er geschafft, folgt eine zweitägige Aufnahmeprüfung. Am Ende werden von 500 Bewerbern 15 Studenten genommen.Es ist ein schöner Samstagvormittag. Doch öffnet sich die schwere Eingangstür der Hochschule, bläst ein Eishauch in die hohen Räume der Gessnerallee. Heute ist Vortest. Auf einer Empore hocken sieben Bewerber: die Burschikose mit den kurzen roten Haaren, die Quirlige mit den vollen Lippen, der Bärtige mit dem breiten Rücken, die Zarte mit dem festgezurrten Ballerinadutt. Kein Wort fällt, kaum ein Blick zum Gegenüber, einzig die Textpassagen im Kopf und die Ungewissheit, die in ihnen hämmert: Werden mich die Prüfer nach 30 Sekunden hinausschicken? Sieht die neben mir nicht eher wie eine Schauspielerin aus? Bin ich zu jung? Zu alt? Ganze drei Minuten pro Szene werden ihnen gegeben, um ihr Talent zu beweisen.Tillmann Braun war 18, als er an seiner Wunschschule, der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, vorsprach. «Keine Ahnung, warum ich mich damals für den Sosias aus Kleists ‹Amphitryon› entschieden hatte. Keine gute Wahl.»Die Ausbildung dauert viereinhalb Jahre. Rund zwei Drittel der 15 diplomierten Schauspieler werden engagiert, bestenfalls an einer staatlichen Bühne. Der Rest aber tingelt durchs Land und hält sich mit Hilfsjobs und Eigenproduktionen über Wasser. Kaum ein freischaffender Schauspieler verdient in der Schweiz mehr als 3000 Franken monatlich. «Als Schauspieler», sagt Tillmann Braun, «lebt man selten in Saus und Braus.»Das wissen auch sie, die ihm durch die Hallen der Schule folgen. Oder zumindest ihre Eltern. Der bärtige Simon musste auf ihren Wunsch zuerst etwas «Richtiges» lernen und Informatiker werden. Innerlich nagte an ihm derweil «das Virus», wie er seine Besessenheit für das Theaterspielen nennt. Es ist bei allen Bewerbern hier dasselbe: Kindertheater, Schulbühne, Amateurtheater. Wer einmal seine Wandlungsfähigkeit entdeckte, einmal die Freiheit spürte, Säufer oder Liebhaber zu sein, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, bleibt am Theater hängen. Simon ist 21 und zum ersten Mal an einem Vorsprechen dabei, ebenso die zarte 19jährige Vera. Die quirlige Janine hat bereits mehrere Versuche hinter sich. Wer es sich leisten kann, zieht durch Europa, beginnt an seiner Wunschschule und endet vielleicht an einer der 17 staatlichen Schauspielschulen im deutschsprachigen Raum.Tillmann Braun bereitete sich damals im elterlichen Siegen «heimlich» auf sein Vorsprechen vor. Dem Vater zuliebe hatte er sich für ein Germanistikstudium eingeschrieben – gesehen hat er die Uni von innen kaum, keine noch so interessante Vorlesung konnte es mit der Bühne aufnehmen.Er stösst die Tür zum Aufenthaltsraum auf. «Hier wartet ihr auf eure Auftritte.» Nur wenige Schritte entfernt öffnet er die Tür zum Probensaal, in dem bereits seine Kollegin Sophia Yiallouros wartet. Im Vortest hören zwei Experten zu. Später, bei der Aufnahmeprüfung, wird die gesamte Lehrerschaft als geschlossene Front vor den Prüflingen sitzen. Papier und Stift liegen auf dem Tisch. Provozierend allein steht er in dem langgezogenen Saal. Die Fenster sind zu, die Läden dicht. Hier drinnen ist der schöne Samstagmorgen rasch vergessen.Zwei klassische und eine selbstentwickelte Szene müssen gezeigt werden. Bereits vor einem Jahr entschied sich Vera für die Marie aus Botho Strauss’ «Die Zeit und das Zimmer». Eine junge Frau, die sich in rasanten Metamorphosen verwandelt, das Vergangene der erlebten Begegnung immer gegenwärtig. Das sollten die Prüfer in den drei Minuten Spielzeit spüren. Eigentlich wollte sie einen Koffer als Requisite mitnehmen, vor lauter Aufregung hat sie ihn zu Hause in Bern vergessen. Janine rezitiert den Monolog «4.48 Psychose» von Sarah Kane. Im Unterhemd und mit nackten Füssen sitzt sie breitbeinig auf einem dunklen Holzstuhl. Hoffnungen, Zweifel, Ängste ordnen sich und zerfallen wieder. Janine nuschelt, kreischt, weint und schreit: «Starren Sie mich nicht so an!», dann lässt sie sich, nach exakt vier Minuten, vom Stuhl fallen. Ein harter Aufschlag. Blaue Flecken. «Danke», sagt Tillmann Braun.Ein Bewerber folgt auf den anderen. Sie hängen an dem Auswendiggelernten wie an einem Tropf. Doch ab und zu ist es schon da – manche wagen es, tasten sich vor, geben ebendiesen Worten ein Eigenleben. Yiallouros sagt: «Der nächste, bitte!» Simon schaut sich im Raum um und fragt, ob er den Türrahmen, der als Requisite herumsteht, wegschieben dürfte. Vor wenigen Minuten noch kniete in ihm Adelma aus «Turandot» und verzweifelte. Tillmann Braun springt auf und hilft zu schieben. «Ich muss mich mal schnell orientieren», sagt Simon. Ja, von hier könnte sein Ruprecht sprechen. Dann wird er zur Figur aus Kleists «Zerbrochnem Krug».In vier Minuten wurde damals auch Tillmann Braun «abgefertigt». Rettend hatte er die Bühne gesucht und sogleich den Sosias zu sprechen begonnen. Viele Stunden hatte er sich daheim in seinem Zimmer darauf vorbereitet. Die Feinheiten der Persönlichkeit studiert, die Eigenart der Bewegungen. Doch dann, dort vorne, ganz allein, verkrampfte sich sein rechtes Bein. Zitternd stand er auf der losen Holzleiste der Bühne, die die Schwingung des Beins übernahm und zu ächzen begann.Tillmann Braun und Sophia Yiallouros gleichen die Notizen ab: «Ein verzweifelter Emanzipationsversuch, es fehlt das Spiel, die Imagination.» – «Nein, ich sehe keine innere Anbindung, verstehe ihre inneren Bilder nicht. Hier fehlt die Leidenschaft für den Beruf. Ein klares Nein.» – «Ich hatte Probleme, sie zu verstehen. Immer dieses ewige Missverständnis, innere Kämpfe so darstellen zu müssen.» – «Die kommt gleich weiter.»Im Aufenthaltsraum kauen die jungen Frauen an ihren Haarspitzen, fixieren die Maserung der Holzleisten an den Wänden. Einige spekulieren, wenn auch nur zaghaft. Besser keine Reflexionen, es überwiegt die Angst. Noch immer führt die Ungewissheit Regie. An eine «apathische Leere» nach dem Auftritt erinnert sich Braun. Einzig Simon hat «ein gutes Gefühl».Es ist nach Mittag. Tillmann Braun reisst die Fenster auf. Sauerstoff. Den Geprüften fällt das Atmen auch mit Frischluft schwer. Die Burschikose mit den kurzen roten Haaren sitzt als erste ihren Richtern gegenüber. Die Hände hat sie unter den Oberschenkeln vergraben. Ihr Blick fragt: Was mache ich hier eigentlich, was tue ich mir an? «Es sind nicht alle Wege verriegelt. Vielleicht sagen andere Experten etwas anderes», sagt Tillmann Braun, «bei uns hat es nicht gereicht.»Eine nach der anderen hört sich das an: «Uns fehlt der Kern der inneren Auseinandersetzung.» Die nächste, bitte: «Ein klares Nein. Wir finden, dass du einfach zu wenig aus der Rolle machst.» Der nächste, bitte. Es ist ein friedliches Häufchen, das sich den Beurteilungen beugt, die Prüfer weder beschimpft, noch von ihnen fordert, sich klarer auszudrücken, was ihnen – verdammt noch mal – nicht passte. Auch das kommt vor. Heute leiden sie im Stillen. Vielleicht aber wurden sie auch geweckt, hofft Tillmann Braun, und entdecken dadurch neue Kräfte, um ihren in die Tonne getretenen Lebenstraum neu zu beleben.Einzig Vera und Simon kommen eine Runde weiter. «Wir sehen uns bei der Aufnahmeprüfung», sagt Tillmann Braun. «Wahnsinn», lacht Vera, «cool, super», stammelt Simon. Als Tillmann Braun vor über dreissig Jahren seine Zusage bekam, konnte er den Prüfern einzig noch ein stark beatmetes «Dankeschön» entgegenhauchen. Dann wurde er still.Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Theater", April 2010.