"Es ist ein Todesschmerz" (NZZ Folio)


Am Abend des 14. Dezember 1976 verlässt der Student Richard Oetker etwas früher als seine Kommilitonen die Botanikvorlesung. Auf dem Parkplatz der Technischen Universität München steht neben seinem Auto ein weisser VW-Kastenwagen. Als Richard Oetker am Heck des Wagens vorbeigeht, richtet ein mit Bart und Kosakenmütze maskierter Mann eine Schusswaffe mit Schalldämpfer auf den 25-jährigen Industriellensohn und zwingt ihn, sich in eine Holzkiste auf der Ladefläche des Kastenwagens zu legen. Richard Oetker ist 1 Meter 92 gross, die Kiste misst 1 Meter 75 in der Länge, 80 Zentimeter in der Höhe und 70 Zentimeter in der Breite. Oetker muss sich krümmen, die Beine anziehen, um Platz zu haben. In der Kiste ist ein Mikrophon befestigt, das laute Geräusche an ein Gerät weiterleitet, das Stromschläge auslöst. Der Kistendeckel wird geschlossen. Der Entführer Dieter Zlof fährt den Kastenwagen in seine Garage im Münchner Stadtteil Pasing. Richard Oetker bleibt eingesperrt. Der Entführer verlangt 21 Millionen Mark Lösegeld.

Richard Oetker, bei der Vorbereitung auf unser Treffen war ich unsicher, wie Sie auf Wörter wie Kiste oder Stromschlag reagieren würden. 

Nach meiner Freilassung besuchte mich im Krankenhaus ein Freund, ich freute mich, dass er gekommen war. Dann brach der Kontakt ab. Als ich ihn nach 15 Jahren wieder traf, fragte ich ihn, weshalb er sich nie gemeldet habe. Er sagte, er habe mir damals von seinem landwirtschaftlichen Praktikum erzählt, bei dem er an den elektrischen Weidezaun gekommen sei und einen Stromschlag bekommen habe. Er hat es nicht verkraftet, dass er mir, der wegen eines Stromschlags im Krankenhaus lag, diese Geschichte erzählen konnte. Deshalb meldete er sich nie wieder. Mir war das mit dem Zaun nicht einmal aufgefallen.

Sie wurden Opfer eines Verbrechens und Invalide. Was wiegt schwerer?

Die Opferrolle. Menschen können mit anderen, die einen Schicksalsschlag erlitten haben, nicht umgehen. Weil sie nicht in ihre Intimsphäre eindringen wollen, wenden sie sich ab. Das macht das Opfer unglaublich einsam. Ich habe das Gefühl, als hätte am 16. Dezember 1976, an dem Tag meiner Freilassung, eine grosse Hand in mein Leben gegriffen und mich in ein anderes Leben hineingesetzt: Von diesem Tag an benahm sich meine Umgebung mir gegenüber fremd. Alle verhielten sich distanziert.

Auch Ihre Familie?

Viele Familienmitglieder haben bis heute nicht mit mir über damals reden können.

Sie selbst haben in der Öffentlichkeit geschwiegen. Warum haben Sie 30 Jahre lang nie über Ihre Entführung gesprochen?

Ich wollte nicht, dass diese schreckliche Geschichte in die Haushalte verkauft und für Unterhaltungszwecke missbraucht wird.

Am Morgen des 15. Dezember 1976 öffnet der Entführer das Garagentor. Dabei streift das Tor die Halterung der Antenne auf dem Wagendach des Lieferwagens, in dem Richard Oetker in der Kiste liegt. Das Geräusch, das dadurch entsteht, löst die Schaltung für den elektrischen Strom aus. Richard Oetkers Körper schlägt verkrampft gegen die Wände der Kiste und löst durch den Lärm immer weitere Stromschläge aus. An diesem Morgen fast zehn Sekunden lang.

Wie erlebten Sie die Momente vor dem Stromschlag? 

Da ich in der viel zu engen Kiste zusätzlich noch an die Kiste gefesselt war, konnte ich mich kaum bewegen. Einzig dann, wenn der Entführer mir Wasser oder Dextro-Energen in die Kiste reichte, konnte ich mich etwas aufrichten. Dabei setzte er sich eine Schweinemaske auf, oder ich musste mir eine dunkle Kapuze über den Kopf ziehen. Bereits am Abend meiner Entführung erklärte er mir, dass er eine Vorrichtung gebaut habe, die bei lauten Hilferufen einen Stromschlag auslösen würde. Ob das die Wahrheit oder eine Lüge war, war für mich unheimlich schwer zu erkennen. Ich schaute mir die Hand- und Fussfesseln an und sah, dass ein Kabel isoliert war und das andere nicht. Daraus schloss ich, dass an der Geschichte etwas Wahres sein musste. Also verhielt ich mich die Nacht über ganz ruhig. Als er morgens – die Kiste war geschlossen – wieder zum Auto kam und ich hörte, wie er irgendeine Tür öffnete, wurde der Stromschlag ausgelöst.

Was geschah mit Ihnen? 

Wenn Strom durch den Körper fliesst, zieht sich jeder Muskel zusammen. Normalerweise schlagen anschliessend die Gliedmassen aus. Da ich mich in der Kiste nicht bewegen konnte und zudem fixiert war, brach ich mir durch die eigene Muskelkraft zwei Wirbel und beide Hüften. Ich blieb bei Bewusstsein und ahnte nichts von der Schwere meiner Verletzungen.

Können Sie die Schmerzen beschreiben?

Sie waren höllisch. Ich dachte, es sei das Ende meines Lebens. Der ganze Körper vibriert, die Konturen verschwimmen, weil der Körper so bebt. Es ist ein Todesschmerz. Es tut so weh, dass man hofft, mit dem Tod das alles zu beenden. Ja … oder man denkt, dies sei bereits das Ende. Und das dachte ich.

Überrascht es Sie selbst, wie viel Schmerz ein Mensch aushalten kann? 

Wenn man mir vorher gesagt hätte, was ich alles durchmachen müsste, hätte ich das nie für möglich gehalten. In solchen Extremsituationen wird so viel Adrenalin ausgeschüttet, da sind Kräfte im Körper, von denen man nicht einmal im Ansatz etwas ahnt. Nach dem Ende des Stromschlags war das Schlimmste überstanden, danach tat mir bei der kleinsten Bewegung nur noch alles weh. Aber ich konnte mich ja sowieso kaum bewegen.

Wie hat der Entführer reagiert? 

Er hörte es poltern und fragte, was geschehen sei und wie er helfen könnte. Ich sagte ihm, der Stromschlag sei ausgelöst worden, er solle mich freilassen. Danach liess er häufiger den Kistendeckel offen. Ausserdem reichte er mir zusätzlichen Schaumstoff in die Kiste, damit ich weicher lag. Dabei machte er einen Fehler: Auf einem der Stücke stand ein Preis drauf. Ich habe mir den Preis und die Schrift genau eingeprägt, was später bei den Ermittlungen weiterhalf. Das war meine Hauptbeschäftigung: mich darauf zu konzentrieren, so viel wie möglich herauszufinden. Damit habe ich mich abgelenkt.

Was überwog, die Angst oder der Schmerz? 

Der ganz grosse Schmerz dauerte nur einen Moment lang, und die Angst habe ich zu beherrschen versucht. Ich konzentrierte mich auf den Zeitpunkt X und versuchte, das Stockholmsyndrom auszunutzen: Zu Anfang siezte mich der Täter. Ich sagte ihm, er solle mich duzen, da ich von solchen Höflichkeitsfloskeln gar nichts hielte, ich sei Richard, aber das wisse er ja. Seinen Namen sagte er mir natürlich nicht. Ich sollte mir für ihn einen Namen ausdenken, worauf ich mich für Checker entschied. Mir war wichtig, dass ich mit dem Namen etwas Positives assoziieren konnte. Ich erklärte ihm, dass Checker der Name meines besten Freundes sei und dass in dieser Situation nun er mein bester Freund sei. Er nahm das an. Vieles klingt phantastisch – aber es war halt so. Den Mann verteufeln, das mache ich bis heute nicht.

Kurz vor Ihrer Entführung, im Oktober 1976, war der Millionärssohn Gernot Egolf entführt worden, einen Monat später der Springreiter Hendrik Snoek. Was ging Ihnen im Moment der Entführung durch den Kopf? 

Mir fehlt der erste Teil der Erinnerung, vermutlich wegen des Schocks. Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich bereits in der Kiste lag und der Deckel der Kiste heruntergepresst wurde und gegen meine Beine drückte. In der zweiten Phase zitterte mein ganzer Körper, ich weiss nicht, ob aus Angst oder wegen der Kälte. Die Kiste war ausgekühlt. Draussen waren in diesen Dezembertagen minus 15 Grad. Der Entführer nahm während der Fahrt sehr schnell über ein Babyphon mit mir Kontakt auf. Es dauerte eine Zeit, ehe ich mich gesammelt hatte und mir über meine Situation klar wurde. Da ich von Geburt an Optimist bin, ging ich davon aus, dass ich irgendwann lebend wieder rauskommen würde, obwohl ich keinen Anlass hatte, das zu glauben.

Sie litten nicht unter Klaustrophobie? 

Damals nicht und heute auch nicht. Irgendwann muss ich doch einmal mit Fachleuten darüber reden … Es ist schon eigenartig, dass ich psychisch an nichts leide!

Körperlich hat Ihnen der Stromschlag Leiden zugefügt. 

Und mir gleichzeitig das Leben gerettet, so paradox das klingt.

Wie das?

Weil ich mich in embryonaler Lage in der Kiste befand, war ein Teil meiner Lunge abgeknickt und nicht mehr funktionsfähig. Wäre ich unverletzt einen Tag länger in der Kiste gewesen, wäre ich vermutlich erstickt. Ich wäre einfach so weggeschlafen. Nach dem Stromschlag öffnete er die Kiste häufiger und verlegte die Freilassung um einen Tag vor.

Tat er das, weil er in Panik geriet?

Nein, er war nicht in Panik. Eine Entführung ist für Opfer und Täter eine Stresssituation. Als Opfer musste ich versuchen, jeglichen Stress zu vermeiden, da sonst die Gefahr bestanden hätte, dass der Täter unkontrolliert handeln würde. Deshalb durfte ich den Stromschlag nicht dramatisieren und nicht zu viel jammern. Andererseits spürte ich, dass ich es körperlich nicht mehr lange aushalten würde, weswegen ich ihn bat, die Freilassung einen Tag vorzuverlegen. Er war so flexibel in seiner Planung, dass er das tun konnte. Ich musste ihn motivieren, damit ich überlebte.

Der Entführer erhält die 21 Millionen Mark Lösegeld. Am frühen Abend des 16. Dezember wird Richard Oetker auf einem Waldweg in ein anderes Fahrzeug umgeladen. Seine Beine knicken beim Versuch, zu stehen, immer wieder weg. Also zieht ihn der Entführer aus der Kiste und durch den Schnee. Er setzt ihn auf den Beifahrersitz eines rotbraunen Opel Commodore. Richard Oetker hat eine schwarze Kapuze über dem Kopf und muss bis 100 zählen, ehe er sich bemerkbar machen darf. Als er bei 30 ist, hört er, wie die hintere Tür des Opels geöffnet wird. Er glaubt, erschossen zu werden. Doch die Wagentür wird wieder zugeschlagen. Nichts geschieht.

Sie lagen schwer verletzt auf dem Beifahrersitz. Wie machten Sie auf sich aufmerksam?

Ich wollte zum Fahrersitz rübergreifen und Lichtzeichen geben, konnte mich aber nicht bewegen. Meine Schmerzen fühlten sich an, als würde die Muskulatur aufbrechen. Nach langen Minuten kam die Polizei und brachte eine Neurologin mit, das hatte der Entführer ihnen telefonisch geraten. Sie hätten genauso gut einen Hautarzt mitbringen können. Dann wurden Sanitäter angefordert. Um möglichst keine Spuren zu verwischen, wurde ich ganz grausam aus dem Auto gezogen und auf eine Bahre gelegt, die unten im Schnee lag.

Wann erfuhren Sie, wie schwer verletzt Sie waren? 

Man lieferte mich im Münchner Klinikum Grosshadern ein. Dort lief alles routiniert ab: Puls fühlen, röntgen, legen Sie sich mal auf den Bauch, links, rechts – das Übliche eben. Plötzlich kam ein Arzt hereingestürmt und rief: «Keine Bewegung mehr!» Ich hatte ständig Schmerzen – aber so richtig schlimm wurden meine Schmerzen erst, als ich erfuhr, wie schlimm es um mich stand. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt nie krank oder verletzt gewesen. Die Diagnose überraschte mich. Um Himmels willen!
Sie gingen viele Jahre an Krücken, mussten erst wieder gehen lernen.

Ich war drei Monate im Krankenhaus und anschliessend in Ragaz in der Rehaklinik. Ich sass im Rollstuhl und ging bis 1980 an Krücken. Bei der einen Hüfte war der Knochen unterhalb der Kugel durchgebrochen und bei der anderen die Kugel mittendurch entzwei. Die Ärzte retteten, was zu retten war, indem sie die Kugeln nagelten. Mitte der 1970er Jahre wollte man einem so jungen Menschen noch keine künstlichen Hüftgelenke einsetzen. Ich habe mich später während des mehrmonatigen Prozesses gegen den Entführer in der Schweiz operieren lassen. Heute habe ich auf beiden Seiten Hüftprothesen.

Können Sie die Eingriffe, die Sie durchmachen mussten, noch zählen?

Es waren unheimlich viele, weil ich auch noch eine Infektion bekam. Auch die Folgeschmerzen waren schlimm: Als man im Krankenhaus meine Verdauung wieder anregen wollte, war das beinah der Schmerz, den ich während des Stromschlags hatte aushalten müssen.

Gibt es Dinge, die Sie wegen der Entführung nicht mehr tun können? 

Eine ganze Reihe. Ich bin gerne Ski gelaufen und habe Tennis gespielt. Seit der Entführung habe ich einen begrenzten Bewegungsradius und kann nicht lange stehen. Abgesehen davon bin ich dankbar und glücklich, dass ich noch lebe.

Sie werden durch die körperlichen Einschränkungen täglich an die Tat erinnert, ist das nicht eine zusätzliche Qual? 

Ja, aber damit lernt man umzugehen. Es läuft mir nicht kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke. Ich habe das durch viele Gespräche, in erster Linie mit der Polizei, verarbeitet.

Ist es nicht noch schwieriger, weil demütigender, Schmerzen zu ertragen, die einem als Opfer zugefügt wurden? 

Als die Schmerzmittel nach meiner ersten Hüftoperation abgesetzt wurden und ich den Schmerz aushalten musste und gleichzeitig wusste, dieselbe Prozedur fängt in zwei Monaten bei der anderen Hüfte wieder von vorne an, da habe ich schon oft gehadert: All das nur, weil ein anderer Mensch dich als Werkzeug benutzt hat, um an viel Geld zu kommen.

Hassen Sie ihn dafür? 

Ich habe noch nie jemandem gegenüber Hass empfunden. Ich kann lieben, aber ich hasse niemanden. Dafür bin ich dankbar – Hass verbraucht nur unnötig Energie und löst keine Probleme.

Psychologen werden sich um Sie als «Fall» gerissen haben? 

In der dritten Nacht im Krankenhaus soll ich im Schlaf gesagt haben, dass ich wegwolle. Daraus folgerten die Ärzte, dass ich psychologische Hilfe brauchte. Gut, ich habe ja alles mitgemacht, ich habe mich auch hypnotisieren lassen, weil man hoffte, dadurch mehr Details über die Entführung zu erhalten. Nachdem ich mich zwei Stunden lang mit einem netten Psychologen unterhalten hatte, kamen wir beide zum Schluss, dass das nichts bringen würde.

Wie schmerzempfindlich sind Sie heute?

Wenn ich eine Spritze sehe, werde ich wahnsinnig und laufe weg. Vor meiner ersten Narkose habe ich ein riesiges Theater veranstaltet, weil mir bewusst wurde, dass ich, der eben aus einer totalen Abhängigkeit kam, mich schon wieder in eine Abhängigkeit begeben sollte. Das Problem habe ich heute noch – aber nur bei der Anästhesie. In einen Bus einzusteigen und abhängig vom Fahrer zu sein, macht mir nichts aus.

Haben Sie jetzt Schmerzen?

1994 hatte ich die letzte Operation, seither habe ich nur noch Ermüdungsschmerzen, weil meine Statik nicht mehr stimmt. Deshalb bin ich auch in therapeutischer Behandlung. Ich könnte durchaus sagen, ich hätte ständig Schmerzen, da ich aber nicht zum Jammern neige und weiss, was es sonst noch für Schmerzen gibt, kann ich damit leben. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen, die jammern, isolieren. Wer will sich schon mit Jammernden in einem Raum aufhalten? Über meine Schmerzen spreche ich mit meinen Ärzten. Meine Mitmenschen versuche ich so wenig wie möglich mit meinen Sorgen und Schmerzen zu belasten, die können sie mir sowieso nicht nehmen.


Von Gudrun Sachse, erschienen im NZZ Folio "Schmerz", Januar 2007.