Interview

Justin Sullivan, wie fühlt sich eine Nahtoderfahrung an? – «Verdammt brillant. Alles, was man darüber erzählt, ist wahr»

Justin Sullivan gehört zu den grossen Independent-Musikern unserer Zeit. Die Ursprünge seiner Band New Model Army liegen im Punk. Ein Gespräch über die neue Armut Englands und ein zu langes Leben.

Gudrun Sachse 12 min
Drucken
«Man sagt, dass das Leben furchtbar kurz sei, das sehe ich anders, es ist verdammt lang», sagt Justin Sullivan, Frontmann von New Model Army.

«Man sagt, dass das Leben furchtbar kurz sei, das sehe ich anders, es ist verdammt lang», sagt Justin Sullivan, Frontmann von New Model Army.

Frank Hoensch / Redferns / Getty

New Model Army könnte grosse Stadien füllen, wenn die Band das wollte. Justin Sullivan ist dies egal, «es ist gut, wie es ist». Ihr 16. Studioalbum «Unbroken» erschien diesen Frühling, und die Band ist damit auf Tournee durch Europa, sie bevorzugt kleine Bühnen, in der Schweiz das Mascotte in Zürich, die Mühle Hunziken bei Bern, die Säle ausgefallen, familiär und immer prallvoll. Dann geht die Reise weiter, zu zwölft im Tourbus. Justin Sullivan schläft oben «ganz vorne», sagt er mit dunkler, tragender Stimme.

Sullivan ist 68 Jahre alt und eine Erscheinung. Ein langes markantes Gesicht, ein in die Seele greifender Blick. Seine Bewegungen strahlen eine Ruhe aus, die ihm seine Vorfahren mitgegeben haben könnten. Der Urgrossvater war ein aus Irland nach Kanada immigrierter Bischof, der Grossvater ein Schriftsteller, der Vater streng religiös. Justin Sullivan: ein Pagan – ein Heide , «religious by nature».

Die Band fand Ende der 1970er Jahre im Norden Englands zusammen. Premierministerin Margaret Thatcher regierte mit harter Hand. Es herrschte Aufbruchstimmung. Die Anfänge sind von Punk-Rock, Northern Soul und der rebellischen Stimmung der Zeit beeinflusst. New Model Army selbst prägten Musikrichtungen wie Post-Punk, Folkrock, Gothic oder Metal, ohne in einer Schublade gelandet zu sein. Das war auch ihr Ziel: musikalisch eigene Weg zu gehen.

Entstanden sind kluge Texte, in Noten gefasster Zeitgeist. 1986 gelang der Band mit dem Song «51st State» der Durchbruch und damit die finanzielle Unabhängigkeit, als Band von der Musik leben zu können, einfach, unprätentiös, aber mit einem stets gut gefüllten Kühlschrank. Der Song galt als Statement gegen die proamerikanische Politik von Margaret Thatcher.

Eine Protestband, sagt Sullivan, seien sie aber nie gewesen. Ihm ging es immer darum, Geschichte und Menschen zu verstehen, und seien es jene, die auf der «falschen» Seite stehen, Nationalisten oder religiöse Fanatiker. Das ist der Vorteil, «independent» zu sein, unabhängig von Labels und äusseren Zwängen, von denen es immer noch genügend gebe. Vor allem seit dem Brexit. Als Band zu reisen, sei noch komplizierter geworden mit «all dem Papierkram», ganz Europa sei jetzt wie einst nur die Schweiz. Mit ihr verbindet ihn eine besondere Beziehung, seit er 1992 während eines Konzerts einen Herzstillstand erlitt.

Justin Sullivan, im Alter von 36 Jahren sind Sie in der Schweiz gestorben.

Ja, das bin ich.

Wie ist das, eine Nahtoderfahrung auf der Bühne zu erleben?

Verdammt brillant. Alles, was man darüber erzählt, ist wahr. Stellen Sie sich die beste Drogenerfahrung vor, die Sie je gemacht haben, und multiplizieren diese um das Hundertfache.

Und angenommen, ich hätte keine gemacht . . .

Wenn das Herz aufhört zu schlagen, wird das Gehirn mit Endorphinen überschwemmt, das sagen zumindest Mediziner. Es ist ein Schweben in gleissendem Licht in vollkommener Ekstase. Ich hatte noch so eine vage Erinnerung an etwas Grünes und Gelbes, das der Garten des Hauses gewesen sein könnte, in dem ich aufwuchs, aber da bin ich mir nicht sicher. Sicher bin ich, dass mir warm wurde und es das beste Gefühl war, das ich je erlebt hatte, ein Gefühl des absoluten Friedens.

Es geschah an einem Konzert im Jura. Sie waren jung, laut, rebellisch – und plötzlich verstummt.

Ich griff nach einem Bühnenlicht. Meine Hand war nass, verschwitzt. Ich habe mich daran festgehalten, und ich erinnere mich, dass ich Zeit hatte, die Strömung an meinem Arm zu spüren, und ich weiss noch, dass ich dachte: Scheisse, das war ein Fehler. Mich von dem Licht zu trennen, war unmöglich. Ich fiel nach hinten auf den Rücken. Alle dachten, ich würde herumalbern, herumspielen. Ich lag also auf dem Rücken, und das Licht leuchtete, ich schätze, etwa zwölf Sekunden lang.

Und dann?

Plötzlich merkte ein Bandmitglied, dass das kein Spass war, und trat mir das Bühnenlicht aus der Hand. Sie trugen mich von der Bühne in die Umkleidekabine. Dort war ein Arzt, der mich zurückholte. Die Stimmen um mich herum wurden immer lauter und lauter, und ich dachte nur, warum lässt man mich nicht in Ruhe, es geht mir doch gerade so gut. Drei Minuten später war ich wieder im Leben.

Sind Sie seither ein anderer?

Viele Jahre später unterhielt ich mich mit einigen Freunden über damals. Einer sagte, dass ich nie wieder zurückgekommen sei. Worauf ein anderer sagte, dass ich sowieso nie wirklich hier gewesen sei. Das stimmt, ich war immer schon ein wenig aus allem raus.

Eine Nahtoderfahrung, aufgewachsen in einem religiösen Daheim. Das hat fast etwas Biblisches.

Mein Vater war streng religiös. Er ging zu Quäkertreffen, in die Moschee und in die katholische Kirche. Er besuchte alle Messen, weil er alle Religionen für gleichwertig hielt. Ihn interessierte die Idee von Geist und Gott. Meine Mutter hingegen war geerdet, das war wichtig für die Beziehung der beiden, sie waren ein gutes Paar. Wir waren religiös, aber nicht im Sinne von einer Unmenge Regeln und Vorschriften, die wir zu befolgen hatten. Es war keine Kindheit in einer Sekte, wir waren eine normale Familie, insofern sieben Kinder normal sind.

Sie sind die Nummer fünf.

Wir waren sechs Brüder und eine Schwester. Aufgezogen haben uns vor allem Au-pair-Mädchen aus Deutschland, aber auch aus der Schweiz, die zu uns kamen, um Englisch zu lernen. Mir wurde gesagt, dass meine Mutter mich nach der Geburt Irmgard übergab, sie sollte sich um mich kümmern. Das tat Irmgard. Während die anderen Au-pairs gingen, blieb sie, bis ich dreieinhalb Jahre alt war. Als ich sie beim 80. Geburtstag meines Vaters zum ersten Mal wiedersah, eine Frau auf der anderen Seite des Raumes, zog es mich zu ihr hin. Es war eine völlig biologische Reaktion, wie: Oh, Mutter. Wirklich seltsam. Wir blieben seither in Kontakt. Mit ihren drei Söhnen bin ich befreundet.

Sieben Teenager, das stellt sich jede Mutter schlimm vor. Zu Recht?

Mit elf habe ich geklaut, aber als Teenager war ich unauffällig: Samstags ging es um Jungs, Fussball und Alkohol und sonntags um Mädchen, Drogen und Politik . Ich wuchs in der Nähe von London auf, wohnte in einem kleinen Dorf, einem Quäkerdorf, ein wirklich seltsamer Ort. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg als Quäkergemeinschaft errichtet. Es gab kein Pub. Die Entfernung zu London beträgt rund 45 Kilometer. Heute ist das eine der teuersten Wohngegenden, alles ist superchic und superteuer. Ich würde also nie wieder dorthin zurückkehren, selbst wenn ich es wollte. Ich könnte es mir sowieso nicht leisten.

Sie verliessen den Ort bereits als junger Mann.

Ich zog von zu Hause aus, ging nach London, wie alle Jungen nach London gingen, arbeitete eine Zeitlang in der U-Bahn, trampte durch die Welt, durch Nordamerika, lebte in Belfast mitten in den Unruhen und zog dann nach Bradford, um Friedensforschung zu studieren. Das College beendete ich nicht, obwohl das Thema interessant war, ich war nicht für einen Uni-Cluster geschaffen. In dieser Zeit entstand die Band.

England erlebte damals eine Zeitenwende. Nach politischen Krisen kam es zu einem völlig neuen politischen und wirtschaftlichen Ansatz unter Margaret Thatcher, die 1979 Premierministerin wurde. Wie viel Politik fliesst in Ihre Musik ein?

Es gab damals einige Bands und Bewegungen, die eine politische Agenda verfolgten und Musik als Kulisse für diese politische Agenda nutzten: Crass, Redskins, Chumbawamba. Wir waren anders, bei uns stand die Musik immer an erster Stelle. Wir sehen uns nicht als politische Band. Wir haben auch Liedtexte, deren Ansichten wir nicht einmal teilen. Ein Schriftsteller muss in seinem Roman alle Figuren verstehen, so geht es mir als Songwriter auch. Ich möchte und muss aus unterschiedlichen Perspektiven schreiben können. Ich schreibe über die Welt, über Themen, die mich interessieren, die mir täglich begegnen, aber nie mit einem Ziel vor Augen.

Die Zeitenwende beinhaltete vor allem ein für die Briten neues System, das mit harten Schnitten und Einschränkungen, dem Ende eines Sozialstaates einherging. Im Norden Englands etwa, auch in Bradford, wo Sie damals lebten, wurden Industriezweige, wie Textil oder Kohle, geschlossen. Was blieb Ihnen von dieser Zeit in Erinnerung?

Ich zog 1976 nach Bradford in eine Wollstadt, die plötzlich keine mehr war. Im Norden Englands war es damals nicht möglich, einfach von einem Gebiet ins andere zu fahren, es gab Polizeikontrollen und Strassensperren. Wir lebten in einer Art Polizeistaat. Die damals eingeführte wirtschaftsliberale Idee, die sich flächendeckend ausbreitete, entpuppte sich meines Erachtens als Katastrophe für den Planeten, die Gesellschaft. Als ich ein Kind war, gehörten Strom, Wasser, Eisenbahnen dem Staat. Wir wussten, dass das zum Wohle des Volkes gut geführt wurde.

Dann wurde alles privatisiert.

Ja, und das führt bis heute wiederholt zum totalen Chaos in England. Nehmen wir das Zugnetz, das zusätzlich noch vom Staat subventioniert werden muss. Kürzlich ging ein Journalist einem kleinen Betrag nach: 75 Pence, die jeder von uns zu zahlen hat, wenn er ein Zugticket kauft. Das Ticket kann nämlich nur über eine bestimmte Website gekauft werden. Er stellte fest, dass an diesen 75 Pence 14 verschiedene Firmen verdienten und letztlich alles auf den Kaiman-Inseln landet, steuerfrei.

So funktioniert der freie Markt.

Das Schlimmste daran ist, dass die Bevölkerung heute glaubt, ausgeraubt zu werden, und zwar von den Einwanderern – aber nicht bemerkt, dass es die Reichen sind, die sich an ihnen bedienen. Steuern zu senken, um die Reichen dazu zu ermutigen, mehr Geld auszugeben, wurde mehrfach von der Wissenschaft widerlegt. Dass der Einkommenszuwachs, den die Reichen in einer Gesellschaft erfahren, zu den Mittelschichten und den Ärmeren in der Gesellschaft durchsickern würde, ist ein belegter Irrtum. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. In meiner Kindheit war die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner. Wie wir die Welt heute vorfinden, ist das Ergebnis eines perfekt zusammengebrauten Sturms. Wir stehen erst am Anfang.

1973 trat das Vereinigte Königreich der Europäischen Union bei, 2020 wieder aus. Der Brexit war unter anderem eine Folge des Wunsches nach mehr Wohlstand.

Als sie sagten, dass es ein Referendum geben wird, dachte ich: Oh mein Gott, die meisten Leute interessiert das doch gar nicht. Man sagte uns immer wieder, dass die Probleme im Land alle mit der EU zu tun hätten. Dabei sind sie eine Folge der konservativen Regierung, die seit Jahren an der Macht sitzt. Warum traten wir denn damals der EU bei? Weil die britische Wirtschaft allein nicht überleben kann. Wir sind eine kleine Insel. Die Kolumnistin Marina Hyde sagte einmal, dass sie immer gedacht habe, Grossbritannien habe einen postimperialen Kater. In Wahrheit aber seien die Briten noch immer betrunken. Das finde ich passend.

Wie meinen Sie das?

Es gab das britische Weltreich. Dann im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege. Grossbritannien steht in beiden Kriegen auf der richtigen Seite, auf der Seite der Gewinner. Als Kindern wurde uns beigebracht, wir hätten den Zweiten Weltkrieg gewonnen, aber haben wir das wirklich? Vor allem haben wir ihn überlebt, während die Russen und die Amerikaner ihn gewonnen haben. Dennoch ist es Teil unseres nationalen Verständnisses, dass wir als Grossbritannien unabhängig dastehen. Das ist falsch. Wir wurden damals mit riesigen Flotten aus Amerika, Südamerika und Kanada mit Lebensmitteln versorgt. Wir waren und sind keine Insel, die sich selbst versorgen kann. Die Vorstellung aber von der unabhängigen Weltmacht war beim Brexit enorm wichtig. Die Deutschen nennen uns Inselaffen. Sie haben recht.

Sie sagten, dass die Welt, in die Sie als Kind hineingeboren wurden, eine bessere war. Woher dieser Eindruck?

Als ich jung war, lebte ich in einer der harmlosesten Zeiten der Geschichte, die es in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Der Kalte Krieg war friedlich. Friedlich für uns. Niemals hätte ich ernsthaft gedacht, in einem Atomkrieg zu sterben. Die Stimmung war eine andere. Spreche ich heute mit Menschen, haben die meisten das Gefühl, dass die Welt immer schlechter wird. Als ich ein Kind war, dachten wir hingegen, die Welt würde besser.

Sie leben in Frankreich und in Grossbritannien. Ist Grossbritannien der bessere Ort geworden, den die Befürworter versprochen hatten?

Ich erinnere mich, dass ich einen Artikel über den Brexit gelesen habe, in dem es hiess, dass die Flugzeuge vom Himmel fallen würden, dass es keine Medikamente mehr geben und alles ein einziges Desaster würde, weil die Wirtschaft völlig zusammenbräche. Ich dachte: Nein, das wird nicht geschehen. Das Leben wird weitergehen wie bisher, nur teurer, mühsamer, problematischer. Der Brexit wurde von Personen angeführt, die Bankkonten in Steuerparadiesen haben, die Angst hatten, dass die EU damit anfängt, gegen sie vorzugehen. Sie schwenkten ihre nationale Fahne und bekamen, was sie wollten. Hat es das Leben aller ruiniert? Nein. Aber alle sind ein bisschen ärmer, und alle sind ein bisschen garstiger und wütender.

Covid und der Brexit waren Gradmesser für Freundschaften. Damals wurde einem bewusst, dass es da Freunde gab, die ganz andere Ansichten und Meinungen hatten als man selbst. Freunde wurden neu sortiert. Ging Ihnen das auch so?

Für den Brexit wurde aus unterschiedlichen Gründen gestimmt, aus rassistischen oder nationalistischen, einige träumten von einem neuen sozialistischen Grossbritannien. In meiner Familie gab es jemanden, der für den Austritt aus der EU stimmte. Wir stritten, wir waren uns uneinig, aber das ist okay. Freundschaften hat es nicht zerstört. Schlimm ist, wenn man nicht mehr reden kann, weil jeder in seiner Bubble steckt.

In einem Ihrer Songs, «I did nothing wrong», behandeln Sie den Postskandal in Grossbritannien, Tausende Mitarbeiter wurden bezichtigt, Geld unterschlagen zu haben, erst später stellte sich heraus, dass die verwendete Software fehlerhaft war. Es geht im Grunde um die Macht der Computersysteme. Fürchten Sie sich davor?

Nein, Computer sind dumm. Computer kennen 1 und 0. Das war’s. Computer sind binär, im Gegensatz zum Menschen und zur Natur. Allerdings sind wir in einer Welt angekommen, in der man nur noch richtig oder falsch, unschuldig oder schuldig kennt. Nehmen wir das Chaos in Gaza. Wählen Sie eine Seite. Auf wessen Seite stehen Sie? Wenn ich sage, ich sei entsetzt über das, was die Hamas getan hat, dass es nicht in Ordnung sei, auf tanzende Teenager zu schiessen, heisst es: Oh, Sie unterstützen also die israelische Regierung. Nein, das tue ich nicht. Ich verstehe auch die andere Seite. Schlimm ist, dass wir uns für eine Seite entscheiden müssen, dabei geht es im Leben nicht um eins oder null, um richtig oder falsch. In gewisser Weise haben wir also bereits zugelassen, dass die Gesellschaft von dieser Entwicklung, der Idee der Binarität, erfasst wird. So gesehen, haben die Computer bereits die Macht übernommen.

Computer können Lieder schreiben. Haben Sie schon einmal Chat-GPT für einen Song benutzt?

Nein. Das ist Blödsinn.

Wenn Sie Liebeslieder schreiben, schreiben Sie die für sich selbst – oder auch ein wenig für mich und Ihre Fans?

Alles, was wir tun, tun wir für uns als Band. Wir fragen uns nie, wie andere darauf reagieren werden.

Es gibt aber ein, zwei Lieder, die für mich geschrieben worden sein müssen.

Das ist in Ordnung, dass Sie das glauben. Wir sind alle mit Liedern aufgewachsen, die uns tief berühren. Dasselbe in der Literatur. Man erkennt sich sehr oft darin wieder, ohne dass der Autor von einem wusste. Das ist die Magie an Kunst.

Entstehen die Songs heute anders als vor über vierzig Jahren?

Ein paar Menschen gehen in einen Raum und erschaffen Melodien, die sie lieben. Es ist grossartig, etwas zu erschaffen. Es ist eine gemeinsame Anstrengung. 44 Jahre später ist es genau derselbe Prozess. Wenn das Ergebnis anderen gefällt, great. Wenn nicht, dann ist es so. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum wir nie eine grosse Band geworden sind, weil wir nie die Vorstellung hatten, einem Publikum gefallen zu müssen, Songs spielen zu müssen, die das Publikum hören will. Wir spielen, was wir spielen wollen.

War es eigentlich Ihr Lebensziel, Ihre Eltern stolz zu machen?

Lassen Sie mich überlegen . . . Nein. Wenn du das älteste Kind bist, lastet eine Menge Druck auf dir. Auf dem zweiten vielleicht auch noch, aber die Nummer fünf interessiert niemanden mehr. Mein Vater konnte mit Musik nichts anfangen. Meine Mutter indes liebte jede Musik, zu der sie tanzen konnte. Natürlich rieten sie mir davon ab, Musiker zu werden, und wünschten sich für mich einen «richtigen» Job. Aber es ist schon interessant, dass von all den sieben nur ich, die Nummer fünf, und meine jüngere Schwester auf der Bühne stehen. Sie ist Bauchtänzerin in Kairo. Vielleicht machen wir das, um zu kompensieren, dass wir zu wenig wahrgenommen wurden.

Welcher Teil des Lebens ist am interessantesten: Teenager, Lebensmitte oder das Älterwerden?

In der Jugend will man erfolgreich sein und hat Angst vor dem Versagen. Später ist es egal, was man in seinem Leben macht, ob man Journalist ist, Busfahrer oder Musiker. Dinge gehen schief, und Dinge gelingen. Wird man älter, merkt man, dass die Dinge, die schiefgehen, nicht das Ende der Welt bedeuten, und dass die Dinge, die richtig laufen, nicht alles für immer in Ordnung bringen. Das Leben ist Veränderung. Man sagt, dass das Leben furchtbar kurz sei, das sehe ich anders, es ist verdammt lang. Das liegt zum Teil an der Lebensweise. Wenn man einen Monat auf Tournee geht, fühlt sich dieser Monat an, als habe man drei Jahre gelebt.

Falls Sie wieder sterben sollten, dann erneut auf der Bühne?

O ja, das ist der perfekte Ort. Zu sterben, während man macht, was man liebt: what a wonderful way to go.

Mehr von Gudrun Sachse (gus)

Weitere Themen